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Den Mut haben, sein Leben zu leben

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01.01.2016
Was ist im Leben von Bedeutung? Eine australische Pflegerin hat Sterbende befragt, was sie bedauern. Es sind vor allem fünf Themen, welche die Todkranken beschäftigen. Ihr Buch über den Tod wird zur Inspiration für Lebende.

Acht Jahre lang hat die australische Krankenschwester Bronnie Ware Menschen beim Sterben begleitet. In zahlreichen Gesprächen erfuhr sie, was die Todkranken in ihrem letzten Lebensabschnitt beschäftigt. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Buch publiziert. «The Top Five Regrets of Dying» erregte weltweit Aufsehen. Das Bedauern der Kranken soll vor allem die Lebenden inspirieren, sich zu hinterfragen, was ihnen wichtig ist.
In Bronnie Wares Memento Mori bereuen die meisten, dass sie nicht stärker ihr wahres Ich gelebt haben, statt die Erwartungen von anderen. Ihnen wird klar, wie viele Träume unerfüllt blieben. Vor allem Männer bedauern, so viel gearbeitet und nicht den Mut gefunden zu haben, ihre wahren Gefühle auszudrücken. Am Ende des Lebens wollen viele nochmals ihre Freunde und Angehörigen sehen. Oftmals merken sie dann, dass sie den Kontakt zu ihnen hätten pflegen müssen. Zuletzt wünschen die Todkranken, sie hätten sich stärker erlaubt, glücklicher zu sein. Sie erkennen, dass es ihnen zu wichtig war, was andere von ihnen dachten, anstatt einfach öfters zu lachen und zu scherzen. Erfolg, Sex und Geld fehlen auf der Wares Liste der letzten Wünsche.

In Schweizer Spitälern ein Thema
Die Ergebnisse von Bronnie Ware bestätigen auch die Spitalseelsorger. Auch dort tauchen diese Themen in Gesprächen am Bett auf. «Am Schluss des Lebens strahlt oftmals das Schöne auf, die Beziehungen zu anderen, zu sich und zu Gott», erzählt Claudia Graf, Pfarrerin am Luzerner Kantonsspital. Die grundlegenden Bindungen zeichneten uns Menschen aus und betten uns ein in die Schöpfungsordnung».
Eine Krankheit bietet oftmals den Anlass, um auf das Leben zurückzuschauen. Viele machen sich dann Gedanken, was wirklich zählt. Nach ihrem Austritt aus dem Spital fallen sie jedoch wieder in den Alltag zurück. Claudia Graf findet dies nicht schlimm: Gewohnheiten, die sich bewähren, erleichtern das Leben. Der Trott bringt die Normalität. Es sei ein Stück weit tröstlich, dass der Alltag weitergeht, selbst wenn jemand gestorben ist.
Dem stimmt ihr Baselbieter Kollege Rolf Schlatter zu. Auch er erlebt, dass Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Krankheit Bilanz ziehen. Plötzlich sind sie mit ihrer Endlichkeit konfrontiert. Einen Herzinfarkt erleben sie als Schuss vor den Bug. Einige nehmen sich vor, weniger zu arbeiten und sich mehr Zeit für die Familie und sich zu nehmen. Eine Frau wollte endlich mit ihrem Mann reden, um lang Gehegtes zu verwirklichen. Ein getrennt lebender Ehemann überlegte sich, zu seiner Familie zurück zu kehren. Und eine Krebskranke träumte davon, nochmals ins Meer hinaus zu schwimmen. Das wollte sie nochmals erleben. «Ein Leben lang rennen manche der Karriere oder dem Geld hinterher. Werden wir schwer krank, so besinnen wir uns auf andere Werte», sagt der Seelsorger des Kantonsspitals Liestal. Er habe noch nie einen Patienten getroffen, der sich kurz vor seinem Tod noch einen Porsche gekauft habe.
Hans Rapp, Pfarrer am Spital Bruderholz, erlebt, dass die Sterbenskranken auf ein erfülltes Leben zurückblicken und erklären, sie würden es wieder so machen. Der Wunsch in der Lebensbilanz nach mehr Zeit für sich und für die Familie führt Rapp auf die heutige hektische Arbeitswelt zurück. Viele Kranke verspüren nach der Genesung das Bedürfnis, gelassener und bewusster zu leben und nicht mehr so durch den Tag zu hetzen. Ihre Krankheit sehen sie als ein Zeichen des Himmel und als Chance, ihr Leben zu ändern. Doch dies gelingt nicht allen. Für viele ist der Ausstieg zu schwierig. Sie bleiben in sich und in ihrer Umwelt gefangen.

«Das mit Abstand Wichtigste sind Beziehungen»
Auch die Harvard University ging der Frage nach, wie ein zufriedenes Leben gelingt. 70 Jahre lang begleiteten die Forscher 268 Studienabgänger der Jahrgänge 1939 bis 1945. «Das mit Abstand Wichtigste sind Beziehungen», erklärt George Vaillant, Psychiatrieprofessor und Studienleiter. Dabei gehe es nicht nur um die Liebe zum Lebenspartner, sondern grundsätzlich um die Beziehungen. Prägend seien nicht die Schwierigkeiten, die das Leben beschert, sondern wie man sie angehe, so lautet ein weiteres Ergebnis der Studie. Tod, Krankheit, Verlust, Liebeskummer oder Arbeitslosigkeit erlebt jeder. Entscheidend sei, ob man das negiert, unterdrückt und voller Hass auf andere projiziert, oder ob es einem gelingt, sich selbst nicht so ernst zu nehmen, an andere zu denken und zu versuchen, etwas daraus für die Zukunft zu lernen.

«Entschleunigte Inseln» einrichten
Beziehungen gelten als das Wichtigste. Doch ausgerechnet sie kommen im Alltag zu kurz. Der Terminkalender ist schon Mitte Januar randvoll. Nur nicht mit dem, was man eigentlich möchte. Der Theologe Peter Wild plädiert für einen anderen Umgang mit der Zeit. Er empfiehlt im Alltag Momente des Verweilens einzuschalten. «Jemand, der sich entschleunigte Inseln im Alltag einrichtet und pflegt, kommt letztlich weiter als ein pausenlos Getriebener», meint der Meditationslehrer. Er rät, sich dem zuzuwenden, was Freude und Kraft schenkt und einen aufatmen lässt. Das sind oftmals banale Dinge, wie eine Wanderung, das Lesen von Gedichten, das Singen im Chor oder eine Jasspartie. Was, wenn man sich die Zeit dazu nicht nehmen kann? «Nehmen? Zeit ist genug da», meint Peter Wild. «Man muss sie sich nur gönnen.» Die bewusste Pflege der Zeit erleichtern drei Faktoren, erklärt Peter Wild. Wichtig ist, dass der Alltag eine Struktur und einen Rhythmus erhält. Die Arbeitszeit ist von der Frei- und Familienzeit abzutrennen, ansonsten verdrängt der eine den anderen Teil.
Wild plädiert dafür, den Anfang und das Ende des Tages bewusst zu begehen. Wichtig sei es, zudem Unterbrechungen und Freiräume einzuplanen, um «einfach da zu sein». Und als dritten Faktor sieht Peter Wild die Überprüfung der persönlichen Werteskala: Das Leben ändert sich und da bedarf es ab und zu eines Kurswechsels. «Vielleicht braucht es hin und wieder eine Neuorientierung», erklärt Peter Wild, «und den Mut, diese umzusetzen.»

Tilmann Zuber

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