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Junge Pilgerin auf dem Jakobsweg

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01.01.2016
Die 20-jährige Michèlle Menzi aus Neuhausen hat 800 Kilometer auf dem Jakobsweg zurückgelegt. Intensive Begegnungen, körperliche Strapazen und am Schluss ein grosses Freiheitsgefühl prägen ihren Erfahrungsbericht.

Aller Anfang scheint leicht. «Ich bin doch nur 5 Wochen unterwegs, was soll das Getue», sagt sich Michèlle Menzi kurz vor dem Abschied. Jeden Tag 27 Kilometer wandern, zusammen mit dem Hund Nanouk, übernachten im Zelt. Nicht der Rede wert. Aber aller Anfang ist schwer, erfährt sie schon Stunden später. Die Zugreise zur spanischen Grenze wird zur Qual. Der Hund darf trotz Billett nicht ins Abteil. Ein Betrunkener belästigt die junge Frau. Frust und Tränen kommen auf.
Der erste Tag auf dem Pilgerweg dann wirkt wie eine stimulierende Droge. Der Wecker klingelt um 5.30 Uhr. «Ich bin mir nicht wirklich bewusst, was heute geschehen wird», schreibt sie aufgeregt in ihr Journal. «Was wird sich verändern? Werde ich als neuer Mensch zurückkommen? Werde ich finden, was ich suche: Mich selbst?» Gleich am Anfang stürzt sich die frischgebackene Pilgerin in die erste Bekanntschaft um zwei Tage später zu merken, dass ihr diese Frau unerträglich auf den Wecker geht. Ein wahres Gefühlschaos begleitet sie in der Anfangszeit: «Mal könnte ich die ganze Welt umarmen und im nächsten Moment fühle ich mich wie ein kleines Kind, das auf eine doofe, langweilige Wanderung mitgeschleppt wird.»

«Muss ich da vorbei?»
Wie eine brutale Ohrfeige trifft sie bereits am dritten Tag eine Begegnung mit dem Tod: Auf der Strecke von Pamplona nach Cizur Menor ereignete sich ein Unfall: «Auf einmal rennt uns ein Spanier entgegen und schreit esta muerta! Mein Spanisch ist wirklich nicht gut, aber das habe ich leider verstanden. Will ich da vorbeigehen? Muss ich da vorbeigehen?» Sie geht und die Bilder der toten jungen Frau und dem schwer verletzten Mann, der eine Herzmassage erhält, wühlen sie auf. Die beiden jungen Männer, mit denen sie an diesem Tag wandert, sind in Schockstarre, einzig Nanouk, der Hund, gibt Trost und schlabbert am Abend mit der Zunge über ihr Gesicht.
Hitze, Durst und die Last von Rucksack und Zelt: die tägliche Anstrengung ist enorm. Oft wird Michèlle in Herbergen abgewiesen, wegen des Hundes. Dann, noch immer in der ersten Reisewoche, ein schwarzes Tief: «Vor diesem Punkt hat mich Herr Tanner (der Philosophielehrer) gewarnt. Mir wurde langsam die Bandbreite meiner Entscheidung bewusst. Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie etwas durchgezogen.» Wut steigt hoch, auf das Vorhaben, das sie sich eingebrockt hat. Am liebsten würde sie den Frust an jemandem auslassen. Ein feuchtfröhlicher Abend an einer Bar wird zum Ventil, und am nächsten Tag erlaubt sie sich eine Busfahrt.

«freilaufen»
Obwohl die Strapazen nicht weniger werden, und sie am Schluss darauf brennt, endlich anzukommen, stellen sich Höhepunkte ein. Ein Abend mit auf der Reise gefundenen Freunden, denen sie ihre Lebensgeschichte erzählt, gibt ihr das Gefühl, einem grossen Ganzen anzugehören. Und dann, ohne äusseren Anlass und unverhofft, weil nach einem enttäuschenden Erlebnis ein ganz und gar glückliches Gefühl. «Ich habe mich freilaufen können», schreibt Michèlle Menzi. «Der Camino (Pilgerweg) schmettert dich auf den Boden, trampt auf dir rum, richtet dich wieder auf und bringt dich nach Hause in dir nach Hause.» In Santiago angekommen, stösst sie einen Freudenschrei aus.
Der Erfahrungsbericht trägt den Titel «Nosce te ipsum» (erkenne dich selbst) und ist Michèlle Menzis Maturarbeit. Sie hat ihre Tagebucheinträge nachträglich reflektiert und kommentiert. Im Schlusswort schreibt sie: «Ich bin in mir selbst ruhiger geworden. Ich bin fröhlich. Ich habe gemerkt, wie sehr ich mich in der Welt zuhause fühle.» So wünscht sie sich denn, nach der Matura ihren Rucksack erneut zu packen und in die Welt hinaus zu gehen.



Der Jakobsweg
Der europäische Pilgerweg zum Heiligen Jakob im spanischen Santiago de Compostela hat seine Wurzeln im Mittelalter. Seit einigen Jahren ist er zum Mekka für moderne Pilger geworden: die Pilgerzahlen sind von einigen Hundert jährlich auf fast 200'000 angestiegen. Den meisten geht es heute nicht mehr um Heiligenverehrung als um eine Besinnung auf sich selbst und das Leben.

Barbara Helg

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