Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Die Baustelle Gottes

min
01.01.2016
Eine Sphinx. Dieses Bild tauchte bei Stefan Haupt während der ganzen Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm «Sagrada» immer wieder auf: Die Sagrada Família als Sphinx, als ein Rätsel, das uns Fragen aufgibt, und in seinem Kern ein Geheimnis bewahrt.

Als ich mich im Dezember 2007 in Barcelona unter die Touristen mischte und abends kurz vor Ende der Öffnungszeiten erstmals den Innenraum der Sagrada Família betrat, war ich schlicht und einfach überwältigt von den Dimensionen. Nur schon die Höhe des Kirchenschiffs. Und die damals noch unüberschaubare, riesige Baustelle im Innern der Kirche, die Baugerüste, die bis unters Kirchendach reichten. Doch trotz dieser schieren Grösse fühlte ich mich darin nicht etwa erdrückt oder ohnmächtig klein sondern viel eher aufgehoben, anwesend in einem Universum, das einem genug Raum und Platz und Höhe gibt, um zu atmen, zu staunen, still zu werden.
Aus meiner Kindheit kannte ich bereits viele Kirchen und Kathedralen aus der Romanik und Gotik. Sie gehörten einer fernen, längst vergangenen Zeit an. Was hier so ganz anders war: Dieser Ort war ein sakra­les Gotteshaus doch gleichzeitig auch eine ganz weltliche, staubige, laute Baustelle. Diese Gleichzeitigkeit faszinierte mich. Denn die ganze Heiligkeit, wie man sie von Kirchenbesuchen her natürlich kennt man dämpft sofort die Stimme, bewegt sich langsamer, umsichtiger war hier gleichzeitig anwesend mit einer ganz alltäglichen Normalität der anwesenden Arbeiter, die plauderten, lachten, rauchten und Radio hörten unbesehen einer Tafel für die Touristen, auf der es hiess: Silencio por favor. Dieses gegenseitige Durchdringen des Sakralen und des Alltäglichen hat mich vielleicht am tiefsten und nachhaltigsten berührt als mögliche Vision für unser ganzes Leben. Und in diesem Sinne wünschte ich mir auch, der Bau der Sagrada Família würde für immer weitergehen und nie zu Ende sein. Die Architekten, Arbeiter, Künstler und Bauleute scheinen sich von der unglaublichen Grösse dieser Aufgabe keineswegs demotivieren zu lassen im Gegenteil: ich spürte auf der Baustelle so etwas wie eine «Beseeltheit» aller Mitarbeiter.
Diese Bereitschaft, an etwas mitzubauen, dessen Fertigstellung man vielleicht nie erleben wird, daran mitzugestalten, auch wenn der eigene Name wohl kaum je aufgeführt werden wird, das war für mich spürbar, beeindruckend und rührte an eine tiefe eigene Sehnsucht, Teil eines grossen schöpferischen Ganzen zu sein, das die eigene Lebensdauer und die eigenen Möglichkeiten übersteigt.
Während der Arbeit am Film kam ein weiterer Gedanke auf: Der Bau der Sagrada Família sei ein Anachronismus, etwas Unzeitgemässes, heisst es häufig. Doch eigentlich wird auch Religion generell, wird der persönliche Glaube heutzutage von uns vielfach ebenso wie ein Anachronismus wahrgenommen. Er ist in unseren Breitengraden so etwas wie ein letztes Tabu geworden. Selbst wenn praktisch alle von uns prägende Erlebnisse aus der Kindheit im Zusammenhang mit Kirche und Religion kennen, sprechen wir kaum je darüber.
Beim Beobachten all der faszinierten, ergriffenenen Besucher der Sagrada Família kam es mir deshalb vor, als lebe hier in ihren Blicken klammheimlich auch etwas vom gut versorgten persönlichen Kinderglaube wieder auf, der in seinem tief versenkten Parallelleben nicht tot zu kriegen ist. Wie ein Anachronismus zum vernünftigen, erwachsenen Weltbild behält dieser Glaube eine heimliche Existenz, gespiesen von Ur-Sehnsüchten nach Geborgenheit, Aufgehobensein, Verbundenheit, nach Mythen und Erfahrungen: Geburt, grausamer Tod, märchenhaftes Weiterleben, Auferstehung.



Stefan Haupt ist Filmregisseur. Sein Dokumentarfilm «Sagrada, el misteri de la creacio» kam letztes Jahr in die Kinoskam letztes Jahr in die Kinos, wo er teilweise noch zu sehen ist.

Stefan Haupt

Unsere Empfehlungen

«Es gibt kein Leben ohne Schmerz»

«Es gibt kein Leben ohne Schmerz»

Akute und chronische Schmerzen kennt jeder von uns. Was drückt dem Menschen auf den Rücken? Leben religiöse Menschen gesünder? Kann Schmerz ein Lehrmeister sein? Was ist Biofeedback? Wolfgang Dumat, Psychologe, Psychotherapeut und Experte für chronische Schmerzen, hat Antworten auf diese Fragen.
Die Angst vor den Ängsten

Die Angst vor den Ängsten

Viele Paare hüten sich davor, offen über ihre Ängste zu sprechen. Sie meiden diese Themen, da sie befürchten, missverstanden zu werden oder schwach zu erscheinen. Paartherapeut Tobias Steiger erzählt aus seiner Praxis.