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«Korruption zerstört das Vertrauen in der Gesellschaft»

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01.01.2016
Interview: Auf der Suche nach dem modernen Judas. Judas verriet Jesus für 30 Silberlinge. Korruption, Verrat und Bestechung spielen auch heute eine Rolle. Gerade in der Wirtschaft, wie Delphine Centlivres von Transparency International Schweiz erlebt.

Frau Centlivres, Sie beschäftigen sich bei «Transparency International Schweiz» mit Korruption, Bestechung und Verrat. Was bedeutet für Sie die Figur des Judas?
Judas steht als Symbol für Menschen, die das Vertrauen brechen. Mit dem Bruch des Vertrauens erodiert die Gesellschaft. Eine Gesellschaft entsteht durch ein Netz von Beziehungen. Wenn dieses Netz Schwachstellen aufweist und das Vertrauen schwindet, verlieren die Menschen ihre Sicherheit. Sie werden misstrauischer, egoistischer und die Hilfsbereitschaft nimmt ab.

Die Zivilgesellschaft beginnt sich aufzulösen?
Ja. Der Vertrauensbruch schwächt die Gesellschaft. Vertrauen ist ein hohes Gut, sei es in zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Gesellschaft als Ganzes. Und es ist nicht gottgegeben, sondern muss jeden Tag mit Achtsamkeit und Liebe gepflegt werden.

Erleben wir diesen Vertrauensbruch gerade in der Finanzkrise?
Sicher. Die Finanzwelt basiert auf Vertrauen. Geld ist der symbolische Ausdruck dieses Vertrauens. Fehlt dieses, so kann eine ganze Weltwirtschaft zusammenbrechen, wie dies beispielsweise 1929 geschah. Auch heute haben gewisse Leute illegal, unethisch und masslos gehandelt. Solche Exzesse können eine Vertrauenskrise auslösen, die sich an der Börse niederschlägt.

Was kann man dagegen unternehmen?
Klarheit schaffen, die Fakten auf den Tisch legen, Fehler eingestehen und Mass halten. Die Bevölkerung begrüsst dies, das zeigen die Abstimmung über die Abzockerinitiative und die breite Diskussion in Europa über Löhne, Boni und Finanzmärkte.

Ist Korruption ein solcher Vertrauensbruch?
Ja. Korruption umfasst Bestechung, Vetternwirtschaft, Schmiergeldzahlungen und «Klimapflege». Korrupte Personen missbrauchen ihre Position und Macht für den eigenen Vorteil. Sie betrügen nicht nur ihre Arbeitgeber, sondern auch die Steuerzahler, die Spender und die Bevölkerung im Allgemeinen.

Wie stark ist die Korruption in der Schweiz?
Für die Schweiz haben wir kaum Zahlen, sondern nur Schätzungen. Man geht aber davon aus, dass die Dunkelziffer bei Korruptionsdelikten hoch ist. Im Korruptionsindex für den öffentlichen Sektor landete die Schweiz im letzten Jahr auf Rang 6 von 174 Ländern. Das zeigt, dass der öffentliche Sektor der Schweiz als eher wenig korrupt wahrgenommen wird.

Die Korruptionsfälle der jüngsten Zeit betrafen aber Staatsstellen.
Ja. Der Index vermittelt auch nur ein Bild über die Wahrnehmung der Korruption. In der Tat sah die Realität im 2012 etwas anders aus. Da war einerseits die Affäre in der Zürcher Pensionskasse, deren Anlagechef sich von Geschäftspartnern schmieren liess, oder der Skandal um das Informatikprojekt Insieme der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Möglicherweise gingen da Steuergelder von 100 Millionen Franken verloren.

Welche Umstände fördern die Korruption?
Da gibt es drei: Wenn sich die Gelegenheit ohne grosse Schwierigkeiten bietet, wenn die Kontrolle fehlt und das Umfeld also zum Beispiel der Chef oder die Kollegen bestechlich ist. Gerade das wird als Legitimation verstanden.

Ist jeder bestechlich?
Keineswegs. Die allermeisten können der Versuchung widerstehen.

Im Ausland gehört Korruption jedoch zum Wirtschaftsleben.
Ja, in vielen Ländern. Die Weltbank geht von 1000 Milliarden Dollar aus, die weltweit als Bestechung bezahlt werden. Oftmals ist der Übergang von Vetternwirtschaft, Bestechung und Korruption schleichend. Besonders gravierend wird es, wenn die Korruption in einem Land systemisch ist, und wenn das ganze gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische System von Korruption durchdrungen ist von den Machthabern bis zum «kleinen Beamten». Korruption in diesem Ausmass verletzt das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Institutionen und führt den Teufelskreis von Armut und Instabilität fort.

In den letzten Jahren macht ein positiver Verrat Schlagzeilen: Das Whistleblowing.
Whistleblowing ist kein Verrat, auch kein positiver. Whistleblower sind nicht länger bereit, Missbräuche mit anzusehen oder zu unterstützen.

Trotzdem haftet ihnen der Beigeschmack des Verrats an.
Dabei sind Whistleblower besonders gewissenhaft gegenüber ihrer Arbeit und ihrem Arbeitgeber. Sie sind eine wertvolle Stütze im Kampf gegen die Korruption, die Veruntreuung, sexuelle Belästigung oder Verstösse gegen Sicherheits- und Umweltvorschriften. Es gibt Studien, die zeigen, dass 40 Prozent der Wirtschaftsdelikte erst aufgrund interner Hinweise aufgedeckt werden.

Whistleblower haben eine wichtige Funktion?
Durchaus. Wenn ein Unternehmen die Informationen über Missstände frühzeitig erhält und diese behebt, dann hilft dies, strafrechtliche und finanzielle Folgen für das Unternehmen zu vermeiden. Ganz abgesehen vom Imageschaden.

Wie sollen Angestellte vorgehen, die Missstände in ihrem Unternehmen entdecken?
Zunächst mit dem Vorgesetzten sprechen oder sich an die interne Meldeinstanz wenden, wenn eine solche vorhanden ist. Grundsätzlich muss dem Arbeitgeber zuerst die Möglichkeit eingeräumt werden, auf Hinweise zu reagieren. Das schreibt das Arbeitsrecht vor. Probleme entstehen meist, wenn es zum Kontakt mit einer Stelle kommt, die ausserhalb des Unternehmens steht. Denn der Angestellte untersteht der Pflicht der Interessenswahrung und Geheimhaltung gegenüber dem Arbeitgeber. Natürlich kennt die Rechtsprechung Ausnahmen, wenn das Interesse Dritter oder der Öffentlichkeit höher gewertet wird. Doch die Ausnahmen sind nicht klar definiert und müssen im Einzelfall vom Richter beurteilt werden.

Lohnt es sich für einen persönlich, solche Informationen nach aussen weiterzugeben? Was sind die Konsequenzen?
Nur allzu häufig werden Whistleblower diskriminiert. Sie gelten als illoyal und werden als Denunzianten beschimpft, schikaniert, angeklagt oder entlassen. Für Whistleblower ist es schwierig, sich gegen missbräuchliche Kündigungen zu wehren. Im besten Fall kann jemand vor Gericht einen Schadenersatz von sechs Monatslöhnen erstreiten. Meist sind es jedoch nur zwei Monatsgehälter. Ein Recht auf Wiedereinstellung am verlorenen Arbeitsplatz gibt es in der Privatwirtschaft nicht.

Das bedeutet, trotz Ehrlichkeit wird man seine Stelle verlieren.
Meistens. Hinzu kommt, dass man als «Nestbeschmutzer» nicht so leicht eine neue Stelle findet und womöglich noch eine Klage des Arbeitgebers wegen übler Nachrede riskiert. Man muss schon eine starke Persönlichkeit mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit sein, wenn man sich für einen solchen Schritt entscheidet.

Interview: Tilmann Zuber

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Links:
Transparency International Schweiz setzt sich für die Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung in der Schweiz ein: www.transparency.ch


Delphine Centlivres.

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