Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Der doppelte Judas

min
01.01.2016
Judas, der ewige Verräter. Mit seinem ­Verrat an Jesus wurde der ­Jünger Judas zur Symbolfigur des Verräters. Doch war er es wirklich? Und gehört es nicht zur menschlichen Existenz, der Versuchung nicht widerstehen zu können?

JUDAS DAS BAUERNOPFER

Judas steht für all jene, die aus Gier und Eigennutz über Leichen gehen. Die Interpretation, nach der Jesus von Judas verraten wurde ja verraten werden musste und sich für uns hingegeben hat, um unser aller Sünden auf sich zu nehmen, findet bei jeder Abendmahlsfeier ihren Niederschlag, besonders aber in der Passionszeit.
Meines Erachtens war Jesus aber keiner, der seine Mission als Martyrium betrachtet hat und sich deshalb opfern wollte. Nein, Jesus war ein Überzeugungstäter. Er hat mit Leib und Seele gepredigt, den Armen und Schwachen Mut gemacht, den Sündern einen Neuanfang ermöglicht und den Reichen und Mächtigen den Spiegel vorgehalten. Wer so radikal lebt und handelt, wie Jesus das getan hat, dessen Schicksal ist vorgezeichnet. Insofern stimmt es, dass Jesus wusste, was ihm bevorstand, denn er kannte die Menschen.
Wenn sich die zeitlose Gültigkeit der Bibel irgendwo manifestiert, dann darin, dass Menschen von heute sich in ihrem Fühlen und Handeln nicht wesentlich von jenen der biblischen Erzählungen unterscheiden. Damals wie heute werden Menschen beseitigt, die gewaltlos ein Machtgefüge umzuwälzen und einen sozialen Ausgleich herbeizuführen versuchen. Bei Jesus im Namen des allgütigen liebenden Gottes. Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Dietrich Bonhoeffer sind weitere Beispiele, denen noch viele beigefügt werden könnten.
Täter und Verräter an der Liebe Gottes ist indes nicht Judas, sondern sind all jene, die der Unterdrückung und sozialen Ungerechtigkeit in die Hand arbeiten und anders Den-
kende und Lebende an den Pranger stellen. All jene, die aus Gier und Eigennutz über Leichen gehen, die Drecksarbeit aber erledigen lassen und dazu ein unbedarftes Opfer brauchen: einen Judas, den sie nach getaner Arbeit fallen lassen können. Genau das berichten uns die Evangelienerzählungen.
Der biblische Judas hat seine Verfehlung erkannt, ja bereut: «Als Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er brachte die dreissig Silberlinge den Hohenpriestern zurück und sprach: Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe. Sie aber sprachen: Was geht uns das an? Da sieh du zu!» (Matthäus 27, 3-4). Hätte Judas nicht auch jene Gnade der Vergebung verdient, die dem einen Verbrecher zuteil wurde, der mit Jesus am Kreuz starb, weil er seine Tat bereute? Judas hat die Konsequenzen gezogen und sich erhängt, die Anstifter indes kamen ungeschoren davon. Das kommt mir bekannt vor. Und ­
Ihnen? 
Franz Osswald


DER FROMME JUDAS

Ohne Judas kein Kreuz, ohne Kreuz keine Erfüllung.
Ich stelle den Antrag, Judas aus Kerioth selig zu sprechen, der ein Sohn des Simon war und im Volksmund bis heute «Judas, der Sichelmann» heisst. Denn ihm und keinem anderen sonst ist es zu danken, dass in Erfüllung ging, was im Gesetz und bei den Propheten über den Menschensohn steht. Hätte er sich geweigert, unseren Herrn Jesus den Schriftauslegern und Großen Priestern zu übergeben, hätte er sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne den Überlieferer.
Jesus, Rentner in Galiläa
Ein revoltierender Judas hätte Jesus das Leben gerettet und uns allen den Tod gebracht. Aber Judas rebellierte nicht. Er wusste nämlich, dass es an ihm einzig an ihm: lag, ob die Prophetie des alten Bundes sich erfüllte oder nicht. Eine kleine Bewegung seines Kopfes, ein Schütteln statt eines Nickens, als Jesus den Satz gesagt hatte: «Wasdu tun willst: Tus schnell» und Gottes Plan wäre vereitelt worden. Dank sei dem Judas. Er hat getan, was getan werden musste. Er hat gewollt, was Gottes Wille war. Einer musste es tun und dieser eine war Judas. Er wusste, dass es eines Menschen bedurfte, um Jesus zu überliefern. Ein Mensch war vonnöten, kein Gott. Ein Mensch, der bereit war, zum Attentäter zu werden zum Mordgehilfen und Verräter, um so ein für allemal zu beweisen, wohin Menschen geraten können, die, um ganz sie selbst zu sein, vor keinem Anschlag zurückschrecken am allerwenigsten vor dem Anschlag auf Gott.
Nein, der Mann war kein Teufel: Der Verrat geschah auf Gottes Befehl. Um Jesu willen im Dienste der Sonne, des Tages, des Lichts hatte Judas Schatten zu sein, Dunkelheit und Nacht. Vom Totenreich aus brachte er das Leben zum Leuchten, zeigte in der Hölle die Klarheit des Himmels und zeugte als Satan für Gott.
Wäre Judas wirklich der Verräter gewesen, den unsere Kirche bis zu diesem Tag in ihm sieht er hätte die Soldaten zu Jesus geführt, hätte genickt: «Der da ist es» und sich aus dem Staube gemacht. Nichts davon im Evangelium. Statt des Winkens aus dem Hinterhalt die Umarmung; statt des verschwiegenen Zeichens der Kuss. Der Liebeserweis eines Mannes, der beauftragt war, sich zu verleugnen, und der den ihm von Gott befohlenen Dienst ausgeführt hatte.
Er umarmt und küsst ihn, berührt Christi Mund mit seinen Lippen und Jesus versteht. «Mein Freund», sagt er zu ihm, und dann, flehentlich wie beim Passahmahl: «Tus jetzt. Es ist Zeit.» Ein Kuss, eine Geste der Freundschaft, sanfte Bewegungen und das Wort «Lieber Freund» dann wird nur noch verhört, geschlagen, gespien, gequält, genagelt, geschrien, und gefoltert. Verhöhnt und krepiert.

Der Kuss im Garten von Gethsemane
Die Umarmung in Gethsemane, der Judaskuss: das ist für mich das letzte Licht, das Jesus sah. Danach wurde es Nacht. Der Knecht küsst den Herrn, der Herr sagt zum Diener «mein Freund»: Auch das ist ein Zeichen, dass Jesus und Judas, wie Brüder, zusammengehören. Einem war von Gott der Auftrag gegeben, den Pendelschlag zu vollenden: Vom Himmel zur Erde, von der Erde zum Himmel und dieser eine, man kann es nicht oft genug sagen, war Judas. Er war auserwählt worden, der Verworfene zu sein; denn er allein war stark genug dafür. Judas, der Fromme. Der Einsame unter den Geselligen. Der Mann aus Judäa inmitten der elf Galiläer. Der Kluge unter den Einfältigen. Der Rechner und Zweifler unter den Bauern, Fischern und Jägern. Er wurde für würdig befunden. Ihm ist es abverlangt worden, für das Böse, aber auch für die Überwindbarkeit des Bösen zu zeugen. Er hatte zu demon­strieren, wozu Satan bereit ist und wo Satans Grenze liegt.

Walter Jens, stark gekürzt, aus der «Zeit», 1975

Verwandte Artikel:
21.03.2013: Steckbrief: Judas Ischariot
21.03.2013: «Korruption zerstört das Vertrauen in der Gesellschaft»
25.04.2013: Leserbriefe

Unsere Empfehlungen

«Es gibt kein Leben ohne Schmerz»

«Es gibt kein Leben ohne Schmerz»

Akute und chronische Schmerzen kennt jeder von uns. Was drückt dem Menschen auf den Rücken? Leben religiöse Menschen gesünder? Kann Schmerz ein Lehrmeister sein? Was ist Biofeedback? Wolfgang Dumat, Psychologe, Psychotherapeut und Experte für chronische Schmerzen, hat Antworten auf diese Fragen.