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Was ich bin zählt nicht was ich weiss

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01.01.2016
Sonntag für Sonntag steht Pfarrer Alfred Aebersold auf der Kanzel der Kirche Balsthal. Dabei hat er verstanden, die Botschaft weiterzugeben ist nicht Kopfarbeit.

Warum ich auf die Kanzel steige
Warum steigt ein Pilot in das Cockpit und fliegt von Zürich nach Boston? Ganz einfach: Weil er dazu ausgebildet und von der Fluggesellschaft angestellt wurde. Bei mir als Pfarrer läuft es genau gleich: An der Uni wurde ich zum Pfarrer ausgebildet und von der Kirchgemeinde Thal bin ich angestellt. Okay, das klingt meinetwegen nicht sehr geistlich, aber genau hier, auf diesem bescheidenen Niveau fang ich gerne an, denn hie und da muss ich am Sonntagmorgen zu mir selbst sagen: Du hast ein Mandat, eine Verpflichtung, also: Just do it! Warte nicht auf die guten Gefühle und die richtige Motivation, sondern geh einfach in Jesu Namen.
Dazu bete ich Martin Luthers Predigtgebet: Herr, Gott, lieber Vater im Himmel, ich bin wohl unwürdig des Amtes und Dienstes, darin ich deine Ehre verkündigen und der Gemeinde pflegen und warten soll.
Da geht es nun eine Schicht tiefer: Ich glaube, dass Gott mich gesetzt, berufen hat, das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden. Er hat mich nicht berufen, weil er Fähige beruft, sondern ich habe es an mir erlebt, dass er die Berufenen befähigt. Deshalb steige ich auf die Kanzel, weil ich meine Berufung leben muss. In meinem Beruf als Pfarrer gibt es ein heiliges Muss, das schon Paulus erlebt hat: Predige das Wort. Steh dazu, es sei Zeit oder Unzeit. Bei meiner Ordination erhielt ich den Titel: Verbi Divini Minister Diener am Worte Gottes. Adolf Schlatter, der berühmte Schweizer Theologe, der vor 130 Jahren hierzulande keine Professur erhielt, wurde in Berlin vor seiner Anstellung vom Kultusminister gefragt: Stehen Sie auf der Schrift? Und Schlatter gab zur Antwort: Nein, ich stehe unter der Schrift! Genau so verstehe ich mich auch. Ich steige zwar auf die Kanzel, aber stehe unter der Schrift, als Wort Gottes. Sie ist mir Autorität und Richtschnur, von Gottes Geist belebt.
Nach ein paar Jahren Dienst im Pfarramt verstand ich auch, dass sich die Gemeinde keinen Deut für das interessiert, was ich alles weiss, aber sie interessiert sich für das, was ich bin. Hier kommt das Wort Authentizität dazu. Was die Herzen der Gemeinde erreichen will, soll von Herzen kommen und nicht vom Kopf, denn laut Paulus bläht das Wissen bloss auf, die Liebe aber baut auf.
Und von Alois Biedermann, einem anderen Schweizer Theologen, gibt es die hübsche Anekdote, wie er beim Ablegen seines Predigtexamens ins Schwitzen geriet. Damals, im 19. Jahrhundert, mussten die Kandidaten der Theologie ihre Examens­predigt auswendig vortragen. Biedermann fing an und geriet mitten in seiner Predigt ins Stocken. In seiner Verlegenheit griff er sich an den Kopf, fand nach einer kürzeren Unterbrechung den Faden wieder und kam zügig zum Ende.
Beim anschliessenden Examensgespräch kam einer der Experten auf den eher peinlichen Zwischenfall zu sprechen und meinte zu ihm, das mit der längeren Kunstpause sei halb so schlimm und sei auch schon grösseren Persönlichkeiten als ihm Biedermann passiert. Sogar Martin Luther habe einmal in einer Predigt den Zusammenhang verloren. Aber Luther habe sich nicht an den Kopf gegriffen, sondern habe seine Hand ans Herz gelegt.
Deshalb steige ich auf die Kanzel, um zu predigen, was Christum treibet, mit der Hand auf dem Herz, zwar nicht auswendig, aber dafür inwendig.  

Alfred Aebersold, Pfarrer in Balsthal

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