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«Es sind arme Hunde, die darauf versessen sind, im Geld zu ersticken»

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01.01.2016
Die Eindrücke vom Kirchentag in Hamburg sind noch frisch: Der Theologe und Autor Fulbert Steffensky spricht über eine kleinpolitisch gewordene Kirche, spirituelle Reichtümer des Christentums und erinnert an seine Frau Dorothee Sölle, die vor zehn Jahren starb.

Herr Steffensky, Sie kommen direkt vom Kirchentag in Hamburg. Die «Tageszeitung» titelte «Keine Höhle des Löwen mehr», statt ­Protest herrsche auf den Podien kuscheliges Einvernehmen. Wo bleibt die kritische Stimme der Kirche?
Der Kirchentag hatte nicht das eine grosse politische Thema wie etwa zu Zeiten der Friedensbewegung. Aber fast in allen Veranstaltungen wurde sein Motto «So viel du brauchst» in kleine politische Schritte umgesetzt. Auch die Kunst der kleinen Schritte ist eine politische Kunst.

Das tönt nicht gerade spektakulär. Der Kirchentag ist auch Abbild der Volkskirche. Ist die Zeit der grossen Visionen, wie sie ihre 2003 verstorbene Frau Dorothee Sölle hatte, vorbei?
Ich glaube, dass die Kirche noch nie so interessant war wie jetzt. Sie wird kleiner. Sie ist der Gesellschaft weniger dienstverpflichtet, weil diese den Dekor von Religion nicht mehr braucht. Sie ist nicht mehr kriegslüstern und antijüdisch. Sie hat nicht mehr das Geld, abstruse Gebäude wie den Petersdom oder die Kaufmannskirche in Hamburg zu bauen. Die Frauen spielen eine andere Rolle. Das sind Befreiungsmomente.

Dennoch hat man das Gefühl, dass der Kirche das kämpferische Element früherer Jahre abhanden gekommen ist. Fehlen die charismatischen Persönlichkeiten?
Sie sagen zu Recht, die Kirche ist Volkskirche noch! und damit Durchschnitt. Vielleicht hat sie im Augenblick weniger charismatische Personen, wie es Dorothee Sölle war mit ihrem wunderbaren Zorn und mit ihrer unvergleichlichen Sprache. Aber sie hat charismatische Gruppen: die Feministinnen, die Taizégruppen, Caritas, die gegen Land- und Wasserraub kämpft, die Eine-Welt-Gruppen mit ihrem alltäglichen und wunderbaren Engagement. Ich setze auf solche Gruppen. Sie sind die Läuse im Pelz der behäbigen Grosskirche. Auf sie setze ich mehr als auf einzelne charismatische Personen oder auf Kirchenleitungen.

Engagement gepaart mit Spiritualität braucht die Kirche wieder mehr davon?
Ja! Die Kirchen sollen sich nicht mit allen Mitteln interessant machen. Sie sollen beten lernen und sollen wissen, dass die ersten Adressaten dieses Evangeliums die Armen sind. Gott und das Brot der Armen mehr ist nicht wichtig.

Für Dorothee Sölle waren Armut und soziale Ungerechtigkeit ein Skandal. Sollte die Kirche sich nicht lieber darauf konzentrieren und aktive Nächstenliebe praktizieren?
Ob ich fähig bin, die Augen Christis in den Augen der hungernden Frau oder des verstossenen Kindes zu sehen, ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern des Glaubens. Die Gerechtigkeit, der politische Name der Liebe, ist die Form des Glaubens an Gott.
Wenn die Kirche das nicht zur ihrem Hauptthema macht, dann ist sie dazu verdammt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, zum Beispiel, Profil zu gewinnen oder zu wachsen. Je stärker sich die Kirche um sich selbst kümmert, desto verzweifelter wird sie. Profil gewinnt man nicht, indem man daran arbeitet, sondern in dem man an Gott glaubt und betet.

Wenn der Glaube fehlt, fangen viele an, sich in moralischen Kategorien zu äussern: Iss weniger Fleisch, fahr weniger Auto! Sind das die neuen religiösen Rituale?
Weniger Fleisch essen, weniger Zerstörung der Natur, ist immerhin Arbeit am Heil der Welt, also es ist nichts Geringes und nicht nur Moral. Allerdings wünsche ich mir, dass die Kirche ihre grossen religiösen Themen nicht vergisst. Sie soll wissen, was Gnade, Christus, Auferstehung sind. Sie soll sich nicht in kleinen moralischen Sagbarkeiten erschöpfen. Was man sagen kann, sagen viele, aber die Kirche ist auch der Hort der Unsäglichkeiten: das Gott lebt und dass die Tyrannen gestürzt werden.

Religiöse Begriffe wie Gnade bekommen so auch eine politische Dimension. Sollte man zum Beispiel Steuersünder wie Uli Hoeness begnadigen?
Hoeness soll zahlen. Danach kann man immer noch über Gnade reden. Gnade heisst ja nicht, dass wir nicht für unsere Schuld einstehen müssen. Das hiesse, auf Christi Kreide zechen und den Schuldigen nicht ernst nehmen. Gnade heisst, dass Gott grösser ist als unsere Schuld und dass es keine Situationen gibt, in denen der Mensch sich endgültig verspielt hat.

Ein Thema des Kirchentags war die Inklusion von Behinderten. Doch immer weniger Menschen wollen den Zustand des Unperfekten akzeptieren, was auch die grosse Zahl kosmetischer Schönheitsoperationen zeigt.
Es gibt eine Gnadenlosigkeit sich selbst gegenüber: Es ist der Zwang, ungebrochen und perfekt zu sein. Darum das Leiden am nicht perfekten Körper. Gnade heisst auch, befreit dazu zu sein, Fragment zu sein. Ich bin nicht gezwungen, Meister meiner Ganzheit zu sein.

Müsste die Kirche hier nicht deutlichere Akzente in der gesellschaftlichen Debatte setzen?
Ich gehe jetzt mal nicht davon aus, was die Kirche noch alles machen und bringen soll. Ich sehe zuerst, was sie hat. Da schätze ich vor allem die köstlichen Nutzlosigkeiten: die Lieder, die wundervolle Verschwendung der Zeit für Gottesdienste und Gebete. Der kürzlich verstorbene französische Soziologe und Autor von «Empört euch», Stephane Hessel, wurde gefragt: «Wovon ernährst du eigentlich deine Hoffnung?» Dieser kämpferische Mann antwortete: «Durch Gedichte und Lieder» und er zitierte Hölderlin. Auch das sind köstliche Nutzlosigkeiten, die unsere Seele ernähren. Meistens kann sich ja nur rechtfertigen, was nützt.

Die spirituellen Schätze der Kirche gehen oft etwas vergessen?
Es gibt eine Form der Selbstentmutigung, indem man immer nur auf das schaut, was misslungen ist. Bei aller Kirchenkritik, die ich auch übe, setze ich auf diese Institution. Sie bewahrt wunderbare Schätze auf wie die Bergpredigt, Franziskus oder die Orden. Es gibt unzählige Gruppierungen in dieser Kirche, die einiges zur Freiheit und zum Glück der Menschen beitragen.

Die Botschaft der Bergpredigt, Gottes Vorliebe für die Armen könnte man die auch auf die Reichen ausweiten? Sie sind ja auf ihre Weise auch arm, weil sie beim Geldanhäufen soviel verpassen?
Natürlich, es sind arme Hunde, die darauf versessen sind, im Geld zu ersticken. Ein russischer Oligarch, Roman Abramowitsch, lässt sich in Hamburg gerade eine Yacht für 800 Millionen Euro bauen. Zunächst sehe ich nicht seine «innere Armut», sondern ich sehe, was er den Armen wegnimmt. Bei der Bergpredigt geht es um die Armen im wortwörtlichen Sinne. Sie sind nicht selig, weil sie gut sondern weil sie arm sind. Die Mutter in Bolivien, die ihr Kind verstümmelt, damit es erfolgreicher betteln kann, ist nicht fromm sondern arm. Das vorrangige Augenmerk gilt ihr und allen die sich nicht selbst helfen können.

Die Kirche könnte Herrn Abramowitsch zeigen, wie viel schöner es ist, in einem Ruderboot zu fahren.
Na ja, ob er es glaubt? Er merkt ja gar nicht, dass er arm ist. Der in der Bibel meistgefürchtete Zustand war jener der Verblendung. Eine Zeit, in der plötzlich das Unrecht geläufig wird.

Dorothee Sölle war eine engagierte Theologin und Friedensaktivistin. Wo würde sie heute eine Sitzblockade errichten?
Vielleicht bei der Abschiebung von Ausländern, sicher beim Waffen-
handel. Verglichen mit den Zeiten der Friedensbewegung sind öffentliche Proteste heute seltener geworden.
Die Bemerkung «Das hat doch sowieso alles keinen Zweck» ist die bequeme Position derer, die vom Ufer aus den sinkenden Schiffen zusehen und nicht handeln. Die Frage, ob es zu spät ist zu handeln, stelle ich mir nicht. Selbst wenn, müsste man handeln. Die Frage, ob es noch Hoffnung gibt, ist mir egal. Man handelt, als gäbe es Hoffnung.

Also erst handeln, dann denken und nicht mit Zweifeln aufhalten?
Denken rettet Leben. Aber es gibt eine kluge Unentschlossenheit, die vor dem Handeln schützt. Ein Beispiel: Die Frage eines gemeinsamen Abendmahls von Katholiken und Protestanten wird man durch theologisches Nachdenken nie lösen. Die Leute sollen es tun und merken, es geht.

Dorothee Sölle trat öffentlich als mutige streitbare Aktivistin auf. Gab es privat auch Platz für Zweifel und Selbstkritik?
Sie war ein selbstkritischer Mensch, und sie war ein irrtumsfähiger Mensch. Wer nicht irrtumsfähig ist, ist auch nicht wahrheitsfähig. Radikale Menschen neigen nicht zu allseitiger Ausgewogenheit. Ich habe ihr gelegentlich gesagt: «Prophetin, sei kein Streithansel! Sage deine Wahrheit so, dass sie Kritik und Trost in einem ist!» Einmal hat sie mit einem Zettel geantwortet: «Es kann sein, dass es unerlaubte Streite gibt. Aber mehr Angst habe ich vor unerlaubten Versöhnungen.» Sie hatte Recht, ich aber auch!

Neben der kämpferischen gab es auch eine sanfte Dorothee Sölle?
Sie war nicht nur die kämpfende Jungfrau von Orleans. Sie war eine Frau, die Gedichte schrieb, die im Kirchenchor ihrer Gemeinde sang, die gerne Wein trank und betete, die gelegentlich eine Zigarre rauchte und die die Blumen liebte. Vielleicht war sie der Empörung fähig, weil sie das Leben liebte und etwas von seiner Schönheit und seinem Glück verstand. Am Abend vor ihrem Tod hat sie in einem Vortrag diesen Satz gesagt: «Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als Gefundene.» Eine Umschreibung dessen, was wir Gnade nennen.


Zur Person
Fulbert Steffensky, geboren 1933, ist einer der bekanntesten theologischen Publizisten deutscher Sprache. Er studierte katholische und evangelische Theologie, lebte 13 Jahre lang als Benediktiner und konvertierte 1969 zur evangelischen Kirche. Er war mit der verstorbenen Protestantin Dorothee Sölle verheiratet und unterrichtete bis zu seiner Pensionierung als Professor für Religionspädagogik in Hamburg. Heute lebt er in Luzern.

Interview: Annette Meyer zu Bargholz und Tilmann Zuber

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