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Wo liegt das Paradies?

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01.01.2016
Das Paradies werden wir nicht an fernen Stränden finden, sondern nur in uns selbst, ist Rolf Kaufmann überzeugt. Der Psychoanalytiker und Theologe lädt uns ein zur Reise zu unseren inneren Bildern.

Rolf Kaufmann, wo finden Sie Ihr Paradies?
Ich versuche, in einem inneren Gleichgewicht zu leben.

Sie brauchen keine Reisen, um Ihr Paradies zu finden?
Nein, keineswegs. Das Paradies ist ein Bild für einen inneren, geistig-seelischen Zustand. Wir alle erfahren das Leben als etwas Unvollkommenes. In unserem Inneren sehnen wir uns nach Harmonie, Glück und Vollkommenheit und projizieren diese Sehnsucht nach aus­sen. Darum glauben wir, unser Paradies beispielsweise in den Ferien zu finden. 

Also keine weissen, einsamen Strände mit Palmen?
Das ist nicht das Paradies. Dieses ist ein inneres Bild, das immer nur für kurze Zeit erfüllt wird. Wer nur in der Welt herumfliegt, flieht vor sich selber und sucht das Paradies am falschen Ort. 

Gehört die Sehnsucht nach dem Paradies zum Leben?
Natürlich. Die Sehnsucht nach dem Ausgleich aller Kräfte gehört zur menschlichen Existenz. Goethes Faust möchte zum Augenblick sagen können: «Verweile doch! Du bist so schön!» Dann wäre die Sehnsucht für immer gestillt. Doch das Leben geht weiter; es steht nie still. Alles ist stets im Fluss.

Jede Epoche hat ihre Paradiesvorstellung: Im Mittelalter hoffte man auf das himmlische Jenseits. Während den Hungersnöten träumte man vom Schlaraffenland und in der bürgerlichen Enge des
19. Jahrhunderts von der Südseeinsel eines Robinson Crusoe und der Freiheit in den Schweizer Bergen, wie sie Heidi erlebt.

Ja, mit diesen Bildern reagierte das Unbewusste auf Nöte und Entbehrungen, die es damit zu kompensieren versuchte. Diesen inneren Drang darf man nicht unterschätzen.

Von welchem Paradies träumt man heute?
In unserer denaturalisierten, vertechnisierten Zeit verbinden viele das Paradies mit einer ursprünglichen Natur. Viele glauben, Urvölker lebten in einem paradiesischen Urzustand. Darum sagen sie, man solle sie doch darin belassen. Aber das sind reine Projektionen. In Wirklichkeit sieht ihr Alltag anders aus: Sie sind alles andere als glücklich. Wir müssen ihnen helfen aber so, dass sie lernen, trotz der zivilisatorischen Fortschritte natürlich zu leben. Genau das müssen auch wir lernen: Aussen wie innen mit der Natur zu kooperieren, anstatt sie beherrschen und unserem oft denaturierten Willen unterwerfen zu wollen.

Das Alte Testament beschreibt das Paradies als Garten Eden.
Das macht nicht nur die Bibel, sondern auch zahlreiche andere Religionen; sie spürten, dass der Mensch nicht eins ist mit sich selber. In allen alten Religionen gibt es Erzählungen und Bilder vom Aufbegehren des Menschen, der dafür von den Göttern bis zum heutigen Tag bestraft wird. Die Geschichten versuchen zu erklären, warum das Leben nicht paradiesisch sei.

Der Sündenfall im Garten Eden ist kein moralisches Vergehen, sondern berichtet davon, dass die ersten Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.
Ein wunderbares Bild! Der Mensch fängt an, selber erkennen zu wollen, wie Kinder, die grösser werden. Er beginnt, das zu hinterfragen, was ihm Gott oder die Eltern sagen. Er trennt sich von ihnen, auch mit dem Gefühl, dass er niemals wieder in ihren Schoss zurückkehren kann. Das bleibt uns verwehrt. Das ist der Preis für geistige und psychische Selbständigkeit.

Gibt es keinen Weg zurück ins Paradies?
Nein, der Weg zurück bleibt uns verschlossen, weil wir uns vorwärts, nicht rückwärts entwickeln müssen, um das Leben meistern zu können. Wir müssen bewusster werden. Das ist der Weg zu einem ausgeglichenen Leben, das dem inneren Bild des Paradieses nahe kommt. Problematisch wird es, wenn wir die Realität nach egoistischen Vorstellungen unseres Ich formen wollen, in der Meinung, so ein Paradies schaffen zu können. Wie etwa Hitler, der den germanischen Minderwertigkeitskomplex kompensieren wollte und damit die Welt an den Rand des Abgrunds führte.

Auch in der christlichen Geschichte gab und gibt es Versuche, das Paradies auf Erden umzusetzen, etwa in Gemeinschaften oder Klöstern. 
Den Versuch an sich finde ich gut. Aber die meisten Christen rechnen dabei nicht mit ihrem Schatten. Sie haben ein allzu harmloses, naives Bild von sich und den andern. Darum missraten die Versuche in der Regel, weil sie mit ihrem Schatten nicht realistisch umgehen.
Ein Beispiel: Als ich jung war, gab es die Bewegung der Kommunen. Gemeinsam baute man ein Haus und wollte alles miteinander teilen. Keiner sollte ausgegrenzt werden. Alle sollten sich offen zeigen und miteinander leben. So gab es beispielsweise im Haus meiner Schwester keine Türe ausser der Haustüre. Auch nicht im Badezimmer. Das ging gut, bis die Töchter in die Pubertät kamen und sagten, sie wollten Türen, um sich zurückziehen zu können. Schliesslich baute man im Haus wieder Türen ein. Das Beispiel zeigt: So einfach geht es nicht.

Am Anfang der Bibel steht der Garten Eden, am Schluss die goldene Stadt Jerusalem.
Jerusalem, das von vier Strömen durchflossen wird und in dem die Bäume ewig blühen, ist ein kreisförmiges Mandala. Die Stadt steht für bewusst geschaffene Harmonie.
Der Garten Eden ist ein Bild für unbewusste Einheit mit der Natur. Das himmlische Jerusalem dagegen ist ein Bild für die zukünftige Einheit des Menschen, der lernt, bewusst in Harmonie zu leben. Aber eben das ist Zukunftsmusik. Doch genau daran müssen wir arbeiten. Der Garten Eden liegt hinter uns das himmlische Jerusalem vor uns.

Herr Kaufmann, geben Sie uns einen Tipp, wie wir wenigstens ein klein wenig ins Paradies zurückkehren können?
Die Bibel hat viele schöne Bilder. Lassen Sie sich von diesen Bildern ansprechen. Sie drücken eine innere Realität aus. Sie fordern uns auf, jeden Tag etwas davon in unserem Alltag zu verwirklichen und damit nicht einfach bis zur Pensionierung zu warten.

Interview: Tilmann Zuber

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Rolf Kaufmann.

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