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Jeder Tag ein Abenteuer

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01.01.2016
Seit 40 Jahren lädt ATD Vierte Welt Kinder aus Basler Sozialsiedlungen in die «Strassenbibliothek» ein.

Im Sommer, wenn die meisten Familien in die Ferien fahren, packen Christine Lindt und Katharina Scherr, unterstützt von Helferinnen und Helfern, Bilderbücher, Papier und Malstifte ein und machen sich auf in ein Quartier, wo sozial benachteiligte Familien wohnen. Während zwei Wochen sitzen sie täglich zwei Stunden im Freien und verbringen Zeit mit Kindern und Jugendlichen aus den umliegenden Mietskasernen. Das Programm: Bücher anschauen, Geschichten erzählen und erfinden, malen, Theater spielen. «Es ist jeden Tag wieder ein neues Abenteuer», berichten die Frauen: «Wie die Kinder sich einbringen, können wir nie planen.» Während in den Anfängen arme Schweizer Familien in den Sozialsiedlungen lebten, sind es heute vor allem Familien mit Migrationshintergrund. Die «Strassenbibliothek» leistet einen Beitrag zur Integration.
«Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Dieses Zitat von Antoine de Saint-Exupéry aus «Der kleine Prinz» sah Katharina Scherr in den Sechzigerjahren als Transparent im Obdachlosenlager Noisy-le-Grand bei Paris hängen. Es begleitet sie seither. In dem Lager lernte sie Père Joseph Wresinski kennen. Er gründete die Bewegung ATD Vierte Welt, die gemeinsam mit den Betroffenen die Armut bekämpft und mittlerweile in der ganzen Welt aktiv ist. Katharina Scherr baute eine Regionalstelle in Basel auf. Auch ihrer Kollegin Christine Lindt ist das freiwillige Engagement für ATD Vierte Welt seit bald 40 Jahren eine Herzensangelegenheit.

Über Fussball zum Lesen
«Für viele dieser Kinder sind Bücher etwas Fremdes», erzählt Katharina Scherr. Aber wie alle Kinder fänden sie Freude an der Kreativität. Mit Begeisterung erzählten sie ihre eigenen Geschichten und malten Bilder. Wie der Junge, der nichts als Fussball im Kopf hatte. Jeden Tag brachte er seinen Ball mit. Doch nach zwei Wochen kam er mit einem Buch. Die Gruppe schrieb ein kleines Theaterstück über Fussball und führte es auf. Das Thema Fussball regte den Schöpfergeist der Kinder an. «Es braucht Geduld, das Vertrauen der Kinder zu uns muss wachsen», sagt Christine Lindt, «aber am Ende übernehmen sie unsere Rolle und gestalten ihren Nachmittag selber.» Für Katharina Scherr sind das die kostbarsten Momente.
Dieses Jahr findet die Strassenbibliothek in der grössten Plattenbausiedlung Basels im Klybeckquartier statt. Mit ihren 900 Bewohnern, rund 300 davon Kinder und Jugendliche, gilt sie als sozialer Brennpunkt. Weil viele Ausländer sind, sei es durch die Kulturunterschiede und Sprachbarrieren manchmal schwierig, an die Kinder heranzukommen, die die Aufmerksamkeit am dringendsten brauchten, so die Erfahrung von Christine Lindt. Dennoch gelingt es den Frauen immer wieder, die Skepsis und Barrieren zu überwinden.
Gemeinschaft erleben
Die Kinder schätzen an der Strassenbibliothek nicht nur das Gemeinschaftserlebnis: «Wir versuchen jedem Einzelnen unsere Aufmerksamkeit zu schenken», betont Christine Lindt. Für Katharina Scherr sind Bücher der beste Weg, um die Herzen ihrer Schützlinge zu erobern: «Geschichten erzählen ist etwas, das die Menschen zusammenbringt.» In einem Album halten die Kinder und die Erwachsenen mit Fotos, Zeichnungen und kurzen Texten ihre Erinnerungen an das Erlebte fest. «Die Kinder sind stolz auf das, was sie erreicht haben», weiss Christine Lindt.
Aus den Anfängen der «Strassenbibliothek» ist bereits die zweite Generation herangewachsen. Mütter, die als Kinder dabei waren, helfen heute mit und bringen ihre Söhne und Töchter. «Es ist schön, die Familien zu begleiten und zu sehen, wie sie sich entwickeln», freut sich Katharina Scherr.

ATD Vierte Welt, Regionalgruppe Basel, Am Wiesendamm 14, Tel. 061 692 92 05, www.vierte-welt.ch.
«Strassenbibliothek» in Basel: 8. bis 19. Juli


Zum Bild: «Strassen­bibliothek»: Mit Bilder­büchern und Geschichten fördern Christine Lindt und Katharina Scherr (rechts) Schöpfergeist und Selbstvertrauen sozial benachteiligter Kinder. |giger

Karin Müller

Links:
www.vierte-welt.ch

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