Zwischen den Welten
In der Zeit vor einem Gottesdienst brauche ich viel Imagination, also Vorstellungskraft. Ich stelle mir vor: Was geschah damals, als der Bibeltext geschrieben wurde und was bewegt mich und die Menschen heute, die Woche hindurch und an dem Tag, an dem ich den Text auslegen werde. Imagination führt mich auch zur Gotteserfahrung und Gotteswirklichkeit, die sich in den biblischen Worten spiegeln. Und Imagination brauche ich, um Gotteserfahrung bei den Menschen heute zu erspüren und dafür die alten biblischen und die neuen heutigen Worte anzubieten. So gesehen bin Brückenbauer zwischen den Wirklichkeiten und Türöffner zwischen den Welten.
Bei der eigentlichen Exegese bin ich oft auch Journalist oder Schriftgelehrter, der die Texte liest und memoriert. Ich trage die Bibelworte die Woche über mit mir herum, bringe sie in unterschiedliche Situationen mit und manchmal spreche ich auch einige Worte daraus. Und manchmal fühle ich mich wie ein Hausarzt, der mit den Worten als Medizin zu den Menschen geht, in ihrer Freude und in ihrer Not.
So war das letzte Woche: «Dein Reich komme» war die Vorgabe einer Predigtreihe, in der wir vier Reinacher Pfarrpersonen die kurzen Inschriften der vier Glocken unseres Kirchturms predigten. Am Freitagabend brachte ich innerlich diese drei Worte an den Abendbrottisch einer Familie mit, die in der Nacht vorher ihre Mutter «ziehen» lassen musste. Sie machte mir Platz an ihrem Tisch im Garten und die Familienmitglieder erzählten: Die Mutter starb zu Hause, an den Folgen von Krebs. Sie hatte ihre Lieben und Freunde darauf vorbereitet und der eigentliche Abschied vollzog sich in gefasster Ruhe. Als am Nachmittag aus unserem Mischeli-Kirchturm die Totenglocke läutete, standen Vater und Söhne am Totenbett und sprachen das Unservater. Sie wussten nicht, dass auch die Glocke ihr Gebet erklingen liess: Die Totenglocke ist jene mit der Inschrift «Dein Reich komme».
Ursprüngliche Bedeutung und heutige Wahrheit
Gute Worte klingen und bringen Wirklichkeiten zum Erscheinen. Es fügen sich ursprüngliche Bedeutung und heutige Wahrheit zu einem Ereignis zusammen, das in jenem Moment so wahr ist wie gnädig und hilfreich, auch wundervoll und weder mach- noch planbar.
Am Sonntag: Ein Gottesdienst unter demselben Titel «Dein Reich komme». Eine vielköpfige Gemeinde von Konfirmandinnen und Konfirmanden bis Senioren. Ein verträumtes kleines Mädchen wurde von Eltern und Paten zur Taufe gebracht. In seinem weissen Taufkleidchen strahlte es schläfrig die Gemeinde an und verzauberte durch seine Zerbrechlichkeit und Zukunftsunbewusstheit. Wir sangen dann ein Lied, das unsere Stimmen wie Kirchenglocken klingen liess: RGB 223 Iubilate Deo, mit dem «Halleluja» am Schluss, wo die Kanonstimmen aufeinandertreffen, wie Glockenklänge. Dann las ich aus der Bergpredigt und versuchte anschlies-send in die Kirche zusätzlich zu uns Heutigen all die Sehnsüchtigen und Heilungsbedürftigen von damals dazu zu erzählen. Später las ich den Predigttext mit dem Unservater im Matthäus-Evangelium und erzählte dann von der Familie und ihrer Wirklichkeit und ihrem Gebet.
Und plötzlich sind wir alle, damals und heute, sichtbar und spürbar, rational und emotional, präsent und träumend, redend und hörend «Reich Gottes». Am Ende beten wir vollkommen neu das Unservater.
Weil solche Wunder immer wieder passieren, «gehe ich auf die Kanzel». Diese Kanzel ist bei mir in der Mischeli-Kirche ein schlichtes Redepult, das ich schnell mal hinter mir lasse und von dem aus ich durch den Mittelgang auf die Mitfeiernden zugehe.
Wir alle feiern und ich bin der Moderator all dieser Worte und Erfahrungen.
Frank Lorenz