Religion geht durch den Magen
Wer die heiligen Schriften studiert und das religiöse Leben betrachtet, kommt bald zum Schluss, Gott muss Chefkoch sein. In allen Religionen gibt es unzählige Speisevorschriften und Rituale. Und jedes religiöse Fest kennt die entsprechenden Gerichte zur Ehre oder Erinnerung an eine Gottheit. Seien es die Guetzli an Weihnachen, der Milchreis zum tamilischen Erntedank oder der Zopf zum Schabbat. «Es gibt keine Religion, die sich nicht auch im Essen manifestiert», erklärt Christoph Baumann von Inforel (Informationsstelle für Religion).
Den Grund erkennt der Basler Religionsexperte in der existenziellen Bedeutung der Nahrung. Essen stiftet Gemeinschaft, Identität und macht bewusst, dass ein gedeckter Tisch nicht selbstverständlich ist. Diese Dankbarkeit zeige sich beispielsweise im einfachen Tischgebet. «In der Fastfood-Gesellschaft, in der das Essen gedankenlos runtergeschlungen wird, geht dieser Dank vergessen», meint Christoph Baumann.
Unterscheidung zwischen rein und unrein
In keiner Religion spielt das Essen eine so grosse Rolle wie im Judentum. «Die Essensvorschriften prägen den jüdischen Alltag einer praktizierenden Jüdin oder eines Juden», erklärt Michel Bollag, Fachreferent Judentum im Zürcher Lehrhaus. Der Kaschrut beschreibt nicht nur, welche Lebensmittel ein Jude als zum Verzehr geeignet betrachtet und was als rein oder und unrein gilt. Detailliert werden die Zubereitung der Speisen, die Einrichtung der Küche und die Handhabung der Geräte aufgelistet. Das Essen und die Getränke müssen koscher sein. Fische mit Schuppen und Flossen etwa sind erlaubt. Fehlen diese, so dürfen Juden und Jüdinnen diese wie auch die Krustentiere nicht verzehren. Milchiges und Fleischiges darf nicht zusammen gegessen werden. In manchen jüdischen Haushalten gibt es deshalb das gesamte Geschirr doppelt, einmal fürs Fleischige, einmal fürs Milchige.
Doch warum hat gerade das Essen diese Bedeutung? Das Judentum, so Michel Bollag, betrachte den Körper als Fundament des Lebens. «Beim Körper fängt das Glaubensleben an.» Mit den Ge- und Verboten könne sich der Mensch über das Materielle erheben und seinen Glauben tatkräftig ausdrücken. Sie zeigten ihm, dass er nicht über alles verfügen könne, was er wolle.
Die Essensvorschriften hätten auch eine soziale Bedeutung, sagt Michel Bollag. Sie stifteten Identität. Über Jahrhunderte schweissten diese Regeln die Juden, die über die ganze Welt verstreut lebten, zusammen und grenzten sie gegen andere Völker ab. Ist das Einhalten all dieser Gebote nicht mühsam? Für Bollag ist dies eine moderne, säkulare Frage. Für einen praktizierenden Juden gehörten sie zum Lebensstil. «Sie empfinden das nicht als Einschränkung, sondern als Bereicherung ihres Glaubenslebens.»
Im Gegensatz zum Islam und Judentum existieren im Christentum keine Speisegesetze. Die alttestamentlichen Speisevorschriften werden im Neuen Testament weitgehend aufgehoben. Seit dem 6. Jahrhundert prägen Zeiten des üppigen Essens und der Enthaltsamkeit mehr und mehr das Kirchenjahr, etwa die vierzigtägige Fastenzeit als Vorbereitung auf das Osterfest. Immer akribischer wird das Regelwerk ausgearbeitet. Im 17. Jahrhundert regelt die Geistlichkeit selbst das Kauen an Fingernägeln und das Verschlucken von Mücken.
Schweizer Reformation begann mit einer Wurst
Die Reformation bricht mit den kirchlichen Buss- und Fastenzeiten. Als 1522 der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli vor Ostern an einem Wurstessen im Haus des Druckers Christoph Froschauer teilnimmt, wird dies zum Fanal der Reformation in der Schweiz. In seiner Streitschrift «Vom Erkiesen und Fryheit der Spysen» rechtfertigt Zwingli das Fastenbrechen.
Heute ist das Fasten auch in evangelischen Kirchen wieder üblich. Für Dorothea Loosli, Fastenkoordinatorin beim Hilfswerk «Brot für alle», ergibt dies Sinn. Fasten sei keine religiöse Pflicht, sondern geschehe aus dem eigenen Entscheid zur Enthaltsamkeit heraus. Deshalb treffe man in den Fastengruppen auch viele, die ansonsten mit der Volkskirche wenig am Hut hätten. Für Loosli ist Fasten mehr als nicht Essen. Das Verzichten hat für sie eine gesundheitliche, soziale und spirituelle Dimension, die ihr bewusst macht, was man isst und was man in seinem Leben wirklich braucht.
Auch wenn das Christentum kaum Speisevorschriften kennt, so sind das Essen und das Gastmahl dennoch zentrale Themen. Die Bitte um das Brot steht in der Mitte des Vaterunsers. Und das gemeinsame Brechen des Brotes, so wie es Christus beim letzten Passahmahl tat, ist das zentrale Sakrament aller Kirchen.
Jesus selbst setzt sich gerne zu Tisch, sei es bei den Pharisäern oder bei den verhassten Zöllnern. Entsprechend werfen Zeitgenossen dem Nazarener vor, ein «Fresser und Säufer» zu sein.
«Das Himmelreich ist wie ein Gastmahl»
Um seinen Anhängern das Reich Gottes näherzubringen, gebraucht Jesus das Bild eines Gastmahls, zu dem alle Gläubigen eingeladen sind: «Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit einem Gastmahl», schreibt das Lukas-evangelium (Lk 14,15).
Die Tradition des gemeinsamen Essens zieht sich durch die ganze Kirchengeschichte. Angefangen bei der urchristlichen Gemeinde über die Armenfürsorge der mittelalterlichen Klöster bis hin zum «Mittagstisch» in den Kirchgemeindehäusern oder den Agape-Feiern in der Frauenkirche.
Während Dogmen und Fanatismus heute den Austausch zwischen den Religionen erschweren, findet der Austausch über den Kochtopf statt. Zum 150. Geburtstag der israelischen Cultusgemeinde in Zürich ist etwa das interreligiöse Kochbuch «Was isSt Religion» erschienen. Junge Muslime, Christen, Juden und Hindus stellen darin traditionelle Gerichte und deren religiösen Hintergrund vor. Es zeigt sich, dass der Glaube trotz aller Differenzen, das Gleiche auf sinnliche Weise kulinarisch feiert: Die Freude und Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens.
Tilmann Zuber
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