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Es ist riskant, nach seinen Wünschen zu fragen

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01.01.2016
Nico Rubeli, Pfarrer und Inhaber der Beratungsfirma in-tego, unterstützt Mitarbeiter bei Problemen in den Betrieben. Er erlebt, wie die Anforderungen der modernen Arbeitswelt Menschen aus dem seelischen Gleichgewicht bringen.

Herr Rubeli, ist das Klima in der Wirtschaft rauer geworden und stehen Manager stärker unter Druck?
Die Risiken der modernen Arbeitswelt bestehen in den Fiktionen und im Sinnverlust.

Das müssen Sie genauer erläutern.
Die Wirtschaftswelt verändert sich immer rascher. Produkte werden geschaffen, die es gar nicht gibt oder die keinen realen Wert haben. Am augenfälligsten zeigt sich die zerstörerische Wirkung der Fiktionen in der globalen Finanzwelt. Da entstehen «Bubbles» oder Finanzprodukte ohne Gegenwert oder Realwerte werden massiv verzerrt.

Das prägt die Kultur und die Erwartungshaltung in den Unternehmen?
Ja. Erfolge werden behauptet, die es gar nicht gab. Kompetenzen werden verkauft, die sich als ohnmächtig entlarven. Karrieren werden gebrochen, statt Entscheidungskonflikte auszutragen. Menschen werden fremdbestimmt und können sich den zerstörerischen Prozessen nicht entziehen. Viele arbeiten weiter, auch wenn sie ihren Job selber kritisch beurteilen.

Sie können sich eine Kündigung nicht leisten.
Alternativen gibt es immer. Nicht alle haben jedoch die Kraft und Fantasie, sie zu finden. Und oft benötigen Arbeitssuchende viel zu viel Zeit, um eine gute Lösung zu suchen. Etlichen erscheint ihre Arbeit und damit ein wichtiger Teil ihres Lebens sinnlos.

Wie weit hat diese Entwicklung auch mit der Globalisierung zu tun?
In der globalisierten Welt sind die körperlichen und psychischen Erkrankungen wegen Stressreaktionen gestiegen. Ständig sind wir erreichbar, ob per E-Mail oder Handy. Das kann uns körperlich und psychisch lähmen und in eine destruktive Krankheitsspirale treiben. Dazu kommt der weltweite Konkurrenzdruck. Unzählige Überstunden bieten keine Garantie, dass Karrieren nicht von aussen verändert oder gebrochen werden.

Was raten Sie Mitarbeitenden, die zu Ihnen in die Beratung kommen, weil die psychische Belastung zu gross wurde?
Der erste Schritt bei Sinnverlust und Lebenskrisen bedeutet: Echtes Leben suchen, Bewältigungsstrategien einüben und das Risiko eingehen, glücklich zu werden.

Sie sprechen von einem Risiko, glücklich zu werden?
Das Risiko wird als solches erlebt, ist aber eine gefährliche Täuschung. Wenn ich anfange, mir Zeit für mich selber zu nehmen und mich frage, was meine Wünsche sind und was mein Herz bewegt, so beginnt eine neue Dynamik zum Leben hin. Für das Umfeld kann die neue Suche nach Lebenssinn ungewohnt sein. In der Arbeitswelt kann Echtheit und Unverfälschtheit als Störung und Behinderung missverstanden werden. Vielen fehlt im Leben der Bezug zu dem, was sie wirklich wollen. In psychiatrischen Kliniken werden Patienten gefragt, was sie noch machen würden, wenn die Welt nur noch drei Tage existierte. Im Leben geht es genau um das, was man in diesen drei Tagen noch tun möchte, heute und jetzt. Die Zukunft ist eine Fiktion. Wir haben nur das Heute zur Verfügung. Deshalb lohnt es sich, jetzt zu leben.

Ist diese Sicht keine Überforderung?
Im Gegenteil. Es braucht diesen Schritt, um in ein seelisches Gleichgewicht zu kommen. Wo haben Menschen tiefen Sinn gefunden? In der Musse, beim Philosophieren, im Sport, in der Natur, Poesie und Literatur, beim Singen und Musizieren, Malen und Kochen. Oder im Engagement für andere, in den Beziehungen oder einfach, wenn man gemeinsam am Feuer oder bei einem guten Essen sitzt und die Seele öffnet und tratscht.

Wie reagieren Vorgesetzte, wenn sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter outen, dass sie unter Depressionen, Burnout oder Angst­störungen leiden? Wird das als Schwäche ausgelegt?
Ich empfehle, sich zunächst an aussenstehende Mediziner oder Psychologen zu wenden. Sobald klar ist, wohin die Therapie führt, beziehe ich den Arbeitgeber ein und erkläre ihm die nächsten Schritte und das Ziel des Programms: Das kann ein spannender Neuanfang oder eine befreiende Trennung sein.

Viele definieren sich über den Job und den beruflichen Erfolg. Ist dies nicht verheerend?
Ja, genau. Die Arbeit soll befriedigend und schön sein. Doch sie ist nicht alles im Leben. Das Lebensziel ist etwas anderes: etwas Poetisches und Belebendes.

Gerade wir Reformierte stehen im Bezug zur Arbeit in einem Konflikt: Einerseits betonen wir das reformierte Arbeitsethos. Andererseits erklären die Reformatoren, dass wir nicht durch Leistung gerechtfertigt werden und die Erfüllung finden.
Richtig. Gerade die Schriften von Jean Calvin, der in der Arbeit den Selbstzweck des Lebens sieht, hatte grossen Einfluss auf unser auf die Arbeit fokussiertes Leben.
Und dennoch: Die reformatorische Theologie ist in ihrer Betonung des befreienden Gottes eine Bewegung zur Befreiung der Menschen. Rückbesinnungen auf unsere christlichen und jüdischen Wurzeln tun uns gut, wie zum Beispiel der jüdische Philosoph Abraham Joshua Heschel schrieb: «Liebe macht die Welt zur beseelten, nicht eigentlich durch das, was sie tut, sondern weil sie es aus Liebe tut.» Übrigens: Heschel begleitete Martin Luther King auf seinem Marsch nach Washington für Arbeit und Freiheit. Das ist Lebenssinn und Leidenschaft.

Tilmann Zuber

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