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«Für den einen ist es die Musik, für den andern der Hund»

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01.01.2016
Das Pflegeheim stellt oftmals die letzte Station im Leben dar. Doch auch dort gibt es tröstliche Momente, wie ein Besuch im Pflegezentrum Schaffhausen zeigt.

Der grosse Bau des Pflegezentrums aus den 60er-Jahren liegt im Geissbergwald wie eine Insel. Auf dem Platz vor dem Eingang sitzen Patientinnen und Patienten im Rollstuhl und beobachten das Kommen und Gehen. Gerade hat sich die schwache Herbstsonne durch den Nebel gekämpft. Im Eingangsbereich wartet Leiter Marcus Pohl. Kräftig schüttelt er die Hand, ein Bubenlachen im Gesicht. Er sagt: «Ich freue mich, dass Sie mit Ihrem Artikel unser Anliegen unterstützen. Wir möchten im Pflegezentrum gute Palliativpflege anbieten, auch wenn wir keinen offiziellen Auftrag haben.» Mit bescheidenen Mitteln auszukommen, lernte der frühere Sozialarbeiter in einem Sterbehospiz von Mutter Teresa in Kalkutta. Wir hätten in der westlichen Gesellschaft im Gegensatz zu Indien so viele Ressourcen, um Patienten ein Lebensende in Würde zu ermöglichen, wir sollten sie nutzen. «Für Menschen am Ende des Lebens da zu sein, ist für mich eine der schönsten Aufgaben überhaupt», sagt Pohl.

Erinnerungen von zu Hause
Der erste Stock gehört den «somatischen Langzeitpatienten». Man steht in einem langen Spitalgang, von dem die Zimmer abzweigen. Die Zimmer sind geräumig, mit Blick in den herbstlichen Wald. Manche strahlen eine persönliche Atmosphäre aus dank einem alten Sekretär, einem Tischchen mit Fotos lieber Angehöriger oder einem gemütlichen Sessel, den Patienten von zu Hause mitgebracht haben. «Wir haben genügend Raum und können, wenn notwendig, auch jemanden ins Einzelzimmer verlegen, wenn er die finanziellen Mittel nicht hat.» Dies sagt Elisabeth Guldener, die stellvertretende Stationsleiterin. Sie hat sich in Palliativpflege weitergebildet. Sie erzählt: «Zu uns kommen verschiedenerlei Patienten. Solche, die durch schwere Beeinträchtigungen intensive Pflege brauchen. Oder solche, die mit einer Krankheit wie Krebs im Alltag weiterhin pflegerische Hilfe benötigen.»
An einem Tisch im Aufenthaltsbereich unterhält sich eine Auszubildende mit einem Mann und einer Frau, beide im Pflegerollstuhl. Die Frau mustert uns aufmerksam. Wer immer könne, sei am Tag nicht im Bett, so Elisabeth Guldener. Es gebe Aktivierungsthe-rapien, Gedächtnistraining, Musik, gegessen werde gemeinsam. «Aber wenn es ans Sterben geht, ziehen sich die Patienten mehr und mehr zurück. Sie umgeben sich dann oft nur mit dem, was für sie wichtig ist», sagt Guldener. Für manche könne dies Musik sein, bei anderen etwa der Hund. Die Angehörigen dürften auch über Nacht bleiben.
«In der Zeit des Sterbens gehen wir ganz auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten ein», sagt Marcus Pohl. «Wir würden jemanden noch ein letztes Mal an den Rheinfall bringen, wenn ihm das etwas bedeutet.» Gewöhnlich seien dies aber einfachere Wünsche: eine spezielle Joghurtcrème etwa. Das einzig Wichtige bei der Pflege sei das Sich-Wohlfühlen, so Elisabeth Guldener. Auch der Kontakt mit den Angehörigen intensiviere sich: «Sie betrachten uns als die Fachleute, die wissen, was der Sterbende braucht.»
Marcus Pohl sagt: Zur Palliativpflege gehöre ebenso wie die körperliche, auch die psychische, die soziale und die spirituelle Pflege. Gerade die Beziehung zu den Angehörigen beschäftige viele. «Manche Patienten spüren vor dem Sterben ihre spirituellen Bedürfnisse», ergänzt Guldener. «Aber die Menschen haben ganz verschiedene Spiritualitäten», sagt sie mit einem Lächeln. Die einen fühlten sich etwa mit Steinen tief verbunden, mit denen sie sich dann umgäben. Für andere sei es der religiöse Glaube, ob christlich, muslimisch oder anderes.
Für die «spiritual Care», wie es heute neudeutsch heisst, ist Spitalseelsorger Andreas Egli da. «Wenn ich einen Sterbenden oder eine Sterbende besuche, nehme ich mir vor allem viel Zeit», sagt der Pfarrer. Die brauche es, um zu spüren, was ein Sterbender bedarf. Manchmal sei sprechen nicht möglich. Dann seien Sprache und Formen des Glaubens hilfreich, um die Erfahrung des Übergangs auszudrücken, der immer auch mit Angst verbunden sei: Psalm 23, «Der Herr ist mein Hirte», oder auch Psalm 121, «Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen», drückten die Erfahrung von Generationen von Menschen aus, die mit diesen Texten gelebt haben und gestorben sind. Das Sterben verklären, etwa als Eintauchen ins Licht, wie dies mancherorts in der Sterbebegleitung geschehe, möchte Egli nicht. Wie das Sterben erlebt werde, sei extrem unterschiedlich: Es gibt Tode, die sind ein brutaler Einbruch ins Leben. Aber es gibt auch solche, die empfindet man als stimmig. Beides werde in der biblischen Tradition beschrieben: Paulus nennt den Tod den letzten Feind, Abraham dagegen starb alt und satt an Tagen.
Zum Schluss hält Elisabeth Guldener etwas Erstaunliches fest: Eigentlich möchte keiner ihrer Patientinnen und Patienten sterben, alle hingen am Leben. Exit sei während ihrer elfeinhalb Jahre Tätigkeit nur einmal thematisiert worden. Und vor allem: Jüngere Leute würden nicht schwerer sterben als ältere. Manchmal komme es ihr vor, als seien diese noch viel stärker mit dem Leben verbunden.

«Nie sind Angehörige dankbarer, als wenn das Sterben gut gegangen ist»
Auf einem Tischchen im Gang steht gerahmt eine Todes-
anzeige, ein türkischer Name, dabei etwas Dekoration und eine elektrisch beleuchtete Kerze. Gestern ist ein Mann gestorben. Er ist den Übergang mit einem Iman gegangen, im Beisein der Familie. Wenn diese Abschied genommen hat, wird er in den Waldfriedhof überführt.
«Auch wenn wir nicht verantwortlich sind, ob ein Sterben als stimmig oder als schlimm empfunden wird, so ist für mich wichtig, dass die Angehörigen später versöhnt daran zurückdenken. Nie sind Angehörige dankbarer, als wenn das Sterben gut gegangen ist.»

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