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«Schlagende Eltern bestrafen sich selber»

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01.01.2016
Religiöse Erziehung wird oft unterschätzt. Doch Studien zeigen, dass religiöse Jugendliche weniger kriminell werden. Dabei schneiden die Katholiken am besten ab, sagt der deutsche Kriminologe Christian Pfeiffer.

Herr Pfeiffer, in der Schweiz diskutierte man kürzlich den Fall
«Carlos». Man prangerte die Kuscheljustiz an, welche jugendliche Kriminelle nicht richtig bestraft. Wie sehen Sie das?

Ich kenne den Fall. Kuscheljustiz ist dafür der falsche Begriff. In Deutschland beobachten wir einen starken Rückgang der Jugendgewalt. Grund dafür ist die funktionierende Prävention, das heisst mehr Liebe und weniger Prügel durch die Eltern, Konflikttraining in den Schulen, bessere Integration der Migranten, eine deutliche Abnahme der Gewaltakzeptanz und ein Rückgang des Jugendalkoholismus und der Jugendarbeitslosigkeit. Diese positiven Entwicklungen haben nichts mit Strafrecht zu tun, sondern mit Kümmern, mit Zuwendung und mit sozialer Integration. Es gibt also keinen Grund, die Strafrechtspraxis zu verschärfen.

Doch wie soll man mit straffälligen Jugendlichen umgehen, die uneinsichtig sind?
Sollten sie wirklich uneinsichtig bleiben, gibt es manchmal nur die Möglichkeit, sie hinter Gitter zu bringen, in der Hoffnung, ihnen dort therapeutische Angebote machen zu können. Das ist aber schwierig. Therapie braucht eigentlich Freiwilligkeit. Das Gefängnis ist ein gefährlicher Ort, den man nur einsetzen sollte, wenn es unvermeidbar ist. Hinter Gittern bekommen Jugendliche sehr viel Gewalt ab und werden fürs Leben stigmatisiert.

Was ist bei Jugendlichen wie ­«Carlos» schiefgelaufen?
Meistens läuft es schon vorher in der Familie schief. Es ist schwer zu korrigieren, wenn jemand wenig Liebe und viel Hiebe erfährt. Das ist dort leider der Fall gewesen, wie ich erfahren habe. Auch der Attentäter Anders Breivik aus Norwegen ist von seiner Mutter massiv geprügelt worden. Inzwischen ist das alles bekannt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass geschlagene Kinder zu schlagenden Eltern werden ist gross. Kann man diesen Teufelskreis durchbrechen?
Sicher. In Deutschland ging in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der prügelnden Eltern um mehr als die Hälfte zurück, von 15 auf 7 Prozent. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Gleichzeitig stieg der Anteil der Kinder, die liebevoll durch beide Elternteile behandelt werden, von 26 auf 63 Prozent. Das zeigt einen radikalen Wandel durch die öffentliche Debatte.

Ziehen Sie eine Grenze zwischen Prügeln und mal einem Klaps? Jedem kann doch mal die Hand ausrutschen.
Die empirischen Daten zeigen klar: Kinder, die gelegentlich mal einen Klaps auf den Hintern oder eine Ohrfeige kriegen, sonst aber liebevolle Eltern haben, verhalten sich gegenüber Gleichaltrigen anders. Sie sind aggressiver und sie setzen die Einschüchterung auch gegenüber Gleichaltrigen ein. Vor allem bestrafen sich die schlagenden Eltern selber, denn ihre Kinder sind ihnen gegenüber weniger vertrauensvoll. Liebe und Gewaltfreiheit zahlen sich aus. Wer das praktiziert, hat die grosse Chance und Freude, in allen Lebenslagen ein wichtiger Gesprächspartner der Kinder zu bleiben.

Ihre Untersuchungen zeigen, dass gläubige Jugendliche weniger Gewalttaten verüben als ihre nicht religiösen Altersgenossen. Können Sie sich das erklären?
Bei den stark gläubigen christlichen Jugendlichen sind nur vier bis sechs Prozent gewalttätig. Bei denen, die einfach nur Kirchenmitglied sind, sind es schon 16 Prozent. Bei den Atheisten ist die Zahl noch höher. Die Liebesbotschaft von Christus verträgt sich nicht mit der Ausübung von Gewalt. Bei den katholischen Jugendlichen zeigte sich die präventive Wirkung des Glaubens noch ausgeprägter als bei den evangelischen.

Katholiken sind friedlicher als Protestanten?
Ja, aber die Religiosität ist nicht der einzige Faktor, der das Verhalten beeinflusst. Wenn man gläubiger Katholik ist, ist das keine Schutzimpfung vor Gewalt, sondern nur ein Faktor unter vielen, der sich positiv auswirkt. Der katholische Glaube entfaltet beispielsweise in Ostdeutschland keine präventive Wirkung, weil dort die Christen zahlenmässig isoliert sind. Erst das Eingebettetsein in eine religiöse Gemeinschaft sorgt für die präventive Wirkung. Was das unterschiedliche Ergebnis bei Katholiken und Evangelischen betrifft, vermuten wir, dass die Erstkommunion und der Ministrantendienst eine wichtige Rolle spielen. Sie binden die katholischen Kinder früh in die Gemeinschaft ein.

Wie steht es mit strenggläubigen muslimischen Jugendlichen? Gilt die positive Wirkung der Religion auch für sie?
Bei den Muslimen verschränken sich kulturelle und religiöse Faktoren. Für sie gilt, je gläubiger sie sind, desto mehr akzeptieren sie die Macho­kultur. Die Dominanz des Mannes wird dort auch von vielen Imamen gepredigt. Auch bei den freikirchlichen Jugendlichen ist der Präventions­effekt durch die Religion geringer. Kein Wunder denn je gläubiger deren Eltern sind, desto mehr schlagen sie ihre Kinder. Sie orientieren sich vor allem am Alten Testament und halten sich an den Satz «Wer seinen Sohn liebt, schlägt ihn beizeiten». Dieser alttestamentarische Unsinn ist in modernen evangelischen und katholischen Gemeinden nicht anzutreffen. Sie orientieren sich weit weniger an einem strafenden und drohenden Gott.

In der Schweiz gibt es zurzeit die Tendenz, den Religionsunterricht aus den Schulen zu verdrängen. Wer soll den Kindern und Jugendlichen Werte vermitteln, wenn die Eltern das nicht tun?
In den Schulen muss es Debatten über richtiges Leben geben. Es ist wichtig, die positive Kraft der Religionen in der Schule zu vermitteln, und zwar in einer Weise, die auch Nichtreligiösen Freude macht. Der Unterricht muss offen angeboten werden, so dass jeder Schüler die Chance hat, die Botschaft von Christus, oder auch von Mohammed, zu erfahren und das Gemeinsame, aber auch das Trennende abzuwägen. Es ist eine Verarmung der Erziehung, wenn Kinder nicht mehr erfahren, welche Chancen Religion vermittelt, nur weil ihre Eltern nicht mehr religiös sind.

Ihre Studien sagen, dass auch das Aufwachsen in einer intakten Familie gegen Straffälligkeit schützt. Heisst das, Kinder von geschiedenen Eltern haben ein grösseres Risiko kriminell zu werden?
Scheidung ist nicht per se etwas Negatives. Im Gegenteil Scheidung ist manchmal richtig konstruktiv, zum Beispiel, wenn der Vater prügelt und Gewalt ausübt. Wer eine liebevolle Erziehung erlebt, mit Eltern, die nicht einschüchtern, sondern sich kümmern, der besitzt eine Schutzimpfung gegen Straffälligkeit. Diese Kinder sind leistungsfähig und selbstbewusst. Sie sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, und sie kümmern sich um andere. Empathie erwächst aus Liebe. Das zu vermitteln, schafft aber auch eine alleinerziehende Mutter.



Christian Pfeiffer
Der Kriminologe und Jurist Christian Pfeiffer, Jg. 1944, ist Direktor des Krimi-nologischen Forschungs-instituts Niedersachsen (KFN). Von 2000 bis 2003 war Pfeiffer für die SPD niedersächsischer Justiz-minister. Im November referierte der Experte auf Einladung des Religions-pädagogischen Zentrums beider Basel vor Religions-lehrpersonen zur gesellschaftlichen Bedeutung der religiösen Erziehung. Seine Publikationen zum Thema sind als Downloads verfügbar auf www.rpz-basel.ch /Ökumenische Medienverleihstelle.

Karin Müller und Annette Meyer zu Bargholz

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