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Wer ist dieses Gesicht?

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01.01.2016
Zurzeit ist James Ensors «Schmerzensmann» aus dem Jahr 1891 im Kunstmuseum Basel zu sehen. Ein Bild von archaischer Kraft, das mit seiner direkten Hässlichkeit und Brutalität verstört.

James Ensors «Schmerzensmann» ist eine Zumutung. Das Bild längere Zeit anzuschauen, fällt schwer. Darüber zu meditieren, noch mehr, obwohl dies die eigentliche Funktion des Bildes als Andachtsbild wäre. Die Darstellung ist schlicht abstossend. Doch haben uns nicht auch Grünewald und andere, insbesondere moderne Künstler, grausame Bilder des gepeinigten Jesus hinterlassen? Woran liegt es, dass uns Ensors «Schmerzensmann» mehr als diese irritiert? Und was beabsichtigt der Künstler mit dieser Irritation? Frontal blickt uns aus dem Bild ein Mann an mit weissem Gesicht, blauen Augen, roten Haaren, rotem Bart und buschigen, blauen Augenbrauen. Das Gesicht ist blutüberströmt, Blut tropft über die Stirne, die Nasenflügel, die Backen und den Bart. Auf dem Kopf eine schwarze Dornenkrone, darum herum ein bräunliches Band, als Andeutung eines Heiligenscheines? Rot ist der Hintergrund, von dem sich der Kopf kaum abheben würde, wäre ein Teil nicht partiell mit einem kreidigen Blauweiss übermalt. Das viele Rot irritiert. Das ganze Bild scheint zu bluten. Irritierend ist auch die Verschiebung des Kopfes aus der Mitte.
Aufgrund des Titels erwarten wir, im Gesicht Christus zu erkennen. Doch gelingt dies nur schwer. Dieses Gesicht ist nicht das eines Mannes in den Dreissigern. Die tiefen Furchen auf der Stirn, die Hautwülste über den Augen, über der Nasenwurzel und die knollige Nase und die dicken Nasenflügel, sie machen den Dargestellten älter. Oder wurde dieser Mensch so sehr misshandelt, dass sein Gesicht geschwollen und aufgequollen ist? Irritierend ist auch der Mund: lachend, folgt man den Oberlippen, schmerzverzerrt im Bereich des Unterkiefers. Das Gesicht erscheint verhärtet und verhärmt. Man möchte hoffen, dass es eine Maske sei. Doch bei aller Faszination, die der Ausdrucksreichtum von Masken auf Ensor ausübte: Das Gesicht des «Schmerzensmanns» ist keine Maske. Es ist auch kein Gesicht, das Fratzen schneidet. Nein, dieser Mensch wurde so sehr gemartert, dass sein Gesicht auf Dauer zur Fratze wurde: verunstaltet, hässlich, furchteinflössend. Das Sanfte, das wir mit Jesu Gesicht in Verbindung bringen, fehlt.
Karfreitag ohne Ostern auszuhalten, ist eine Zumutung
Zwei Jahre vor dem «Schmerzensmann» malte Ensor sein ambitioniertestes Gemälde, den «Einzug Christi in Brüssel im Jahr 1889». Es ist eine Mischung aus Karnevalsumzug, religiöser Prozession, Soldatenaufmarsch und Arbeiterdemonstration, mit Hunderten von Maskenträgern. Und mittendrin ist Christus, dem der Künstler seine eigenen Gesichtszüge verlieh. Auch in anderen Arbeiten hat sich Ensor mit Jesus identifiziert, und so kann auch sein «Schmerzensmann» als Selbstbildnis interpretiert werden. Dass der für das Bild gewählte Ausschnitt sowie die Frontalität des Kopfes Assoziationen zu Christusikonen wecken, irritiert zusätzlich. Das Christusbild der Ikonen ist würdig, erhaben, ruhig, dasjenige Ensors jedoch erniedrigend, grotesk und absurd.
Auch Dürer, Segantini, Hodler oder Mondrian malten Selbstporträts im Stil von Christusikonen. Doch keiner hat ein so irritierendes Bild geschaffen wie Ensor. Das Absurde und Groteske sind Leitthemen seiner Kunst, insbesondere begegnen wir ihnen in seinen Maskenbildern. Mit dem Fratzengesicht des «Schmerzensmanns» deutet er das Leiden Jesu wie auch sein eigenes ebenfalls als absurd und grotesk. Sind sie ja auch! Karfreitag erhält nur von Ostern her einen Sinn. Karfreitag ohne Ostern auszuhalten, das ist die Zumutung von Ensors «Schmerzensmann».




Ensors «Schmerzensmann» ist bis 25. Mai in der Ausstellung «Die überraschten Masken: James Ensor» im Kunstmuseum Basel zu sehen.



Bildnachweis: James Ensor, Der Schmerzensmann, 1891© 2014 Lukas-Art in Flanders vzw, Foto Hugo Maertens und d/arch / ProLitteris ZH

Johannes Stückelberger, Kunsthistoriker

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