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«Die Tochter darf nicht zur Mutter ihrer Mutter werden»

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01.01.2016
Die hohe Lebenserwartung bringt neue Herausforderungen. Wie sollen erwachsene Kinder mit ihren betagten Eltern umgehen? Die Psychologin Bettina Ugolini über Abhängigkeiten und Sandwicheltern.

Heute ist die Lebenserwartung hoch. Mit der Folge, dass die Rollen zwischen den Generationen auf den Kopf gestellt werden. Erwachsene Kinder müssen sich plötzlich mit ihren betagten Eltern auseinandersetzen, deren Kräfte abnehmen. Und umgekehrt reden die Eltern ihren sechzigjährigen Kindern immer noch rein. Dieser Rollenwechsel sei gar nicht so einfach, erklärte Bettina Ugolini an einer Tagung, die in der Pauluskirche in Olten stattfand.
Bettina Ugolini ist Leiterin der Fachstelle Leben im Alter am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Bekannt wurde die Psychologin durch ihren Auftritt in der Sendung «Ratgeber» auf Radio SRF 1.
Sandwicheltern: Zwischen eigenen Kindern und betagten Eltern
In den letzten 100 Jahren ist die Lebenserwartung von 48 auf 82,5 Jahre gestiegen. An die Familie stellt dies besondere Ansprüche. Heute gebe es 100-jährige Mütter mit 70-jährigen Töchtern. Bettina Ugolini: Da stellt sich bald einmal die Frage, wer wen betreue und umsorge. Hinzu kommt, dass sich die Generation im Alter zwischen 40 und 60 Jahren zu Hause mit ihren pubertierenden Kindern herumschlagen und gleichzeitig bei den betagten Eltern vorbeischauen muss. Die Situation sei typisch für Sandwicheltern. Meist stecken dann die Frauen zurück, erzählt die Psychologin. «Die lang ersehnte Kreuzfahrt muss plötzlich abgesagt werden, weil es dem Vater schlecht geht.»
Bettina Ugolini plädiert in der letzten Phase des Lebens für eine neue reife Beziehung zwischen den Generationen. Die Eltern-Kind-Beziehung durchlaufe im Leben ständig neue Phasen: In der Kindheit sei das Verhältnis zu den Eltern geprägt von Abhängigkeit, später als Jugendliche von Abgrenzung und Rebellion und als Erwachsene von Unabhängigkeit.
Im Alter werden die Eltern von ihren Kindern abhängig. Längst vergessene Familienkonflikte und Allianzen tauchen wieder auf. «Man fällt wieder in die alten Muster aus der Kindheit», sagt Ugolini. Werden die Eltern schwächer und gebrechlicher, so werden sie plötzlich bevormundet. «Doch die Tochter darf nicht zur Mutter der eigenen Mutter werden.»
Die Psychologin betont die Bedeutung, dass sich Eltern und Kinder in dieser Lebensphase auf Augenhöhe begegnen. Den erwachsenen Kindern empfiehlt sie, nur dann zu helfen, wenn es für einen stimmt. «Jeder habe das Recht Nein zu sagen», erklärt Bettina Ugolini. Schuldgefühle seien ein schlechter Ratgeber. Tue man etwas gegen seine Überzeugung, so bleiben schlechte Gefühle zurück, die nichts bringen. «Es braucht sich auch niemand Vorwürfe zu machen, wenn die betagten Eltern einst in ein Heim eintreten.» Schuld, dass man in ein Pflegeheim muss, sei die Krankheit und nicht die Angehörigen, welche die Pflege nicht übernehmen wollen, so Bettina Ugolini.
Umgekehrt fordert Bettina Ugolini, dass Kinder ihre hochbetagten Eltern nicht bevormunden, etwa, wenn sie einen neuen Partner haben oder die Wohnung nicht mehr so ordentlich ist. Zu Ratschlägen meint die Psychologin, «gut gemeint ist eben nicht gut». Die Eltern seien nur älter und nicht dümmer und inkompetent geworden. Bei Demenz sehe die Situation jedoch anders aus.
Gerade bei den Erwartungen gehen die Ansichten auseinander: Die Jungen wünschen, dass ihre Eltern lange fit und gesund bleiben, wenig Ansprüche stellen, sich nicht in ihr Leben einmischen, jedoch da sind, wenn man sie braucht. Die ältere Generation hingegen will ihre Jugend bewahren, gefragt sein trotz oder wegen des Alters und ernst genommen werden. Betagte Menschen suchen den Kontakt zu den Jungen und erwarten, dass ihre Kinder für sie da sind und sich um sie kümmern.

Nicht ohne Respekt und Wertschätzung
Bei solch auseinanderstrebenden Vorstellungen ist der Konflikt vorprogrammiert. Oftmals seien die unausgesprochenen Erwartungen der Kern allen Übels. Bettina Ugolini rät dazu, offen und klar miteinander zu reden. Man sollte «in die Finken des anderen steigen», um ihn besser zu begreifen. Alte und Jüngere müssten offen über ihre Erwartungen und den Erwartungsdruck reden. «Das geht nicht ohne Respekt und Wertschätzung.»


Zum Bild: Bettina ­Ugolini ­ermutigt: «Es braucht sich auch niemand Vorwürfe zu machen, wenn die betagten Eltern einst in ein Heim eintreten.» |zuber

Tilmann Zuber

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