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«Alte zetteln keine Kriege an»

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01.01.2016
Weil die Gesellschaft wenig Erfahrung mit dem hohen Alter hat, überwiegt ein viel zu negatives Bild dieser Lebensphase, findet der Soziologe und Altersforscher Peter Gross.

Herr Gross, Sie haben das erfolgreiche Buch «Wir werden älter» geschrieben. Was ist heute besonders am hohen Alter?
Peter Gross: Dass die Mehrheit der Bevölkerung die Lebensphase des hohen Alters erreicht, ist eine Weltpremiere. Wir erleben zwei Altersphasen: das rüstige Rentnerdasein und die Hochaltrigkeit. Unsere Gesellschaft hat noch kaum Erfahrung damit.

Vor der letzten Lebensphase haben viele Menschen Angst.
Im hohen Alter dominieren Krankheit, Demenz und Abhängigkeit. Unsere Gesellschaft ist auf Schnelligkeit, Effizienz und Produktivität ausgerichtet. Da fällt es schwer, einen Sinn im hohen Alter zu sehen. Das wäre aber wichtig.

Weshalb?
Man kann die Welt, das Leben, sich selber, das Alter nur gern haben, wenn man einen Sinn darin sieht. Ganz entscheidend ist für mich beim Älterwerden deshalb nicht nur die materielle Vorsorge damit steht es bei uns im internationalen Vergleich ja sehr gut sondern die immaterielle. Diese ist wichtiger als alles andere. Aber die Diskussion übers Älterwerden wird überdröhnt von Renten- und Kostenfragen.

Was ist der tiefere Sinn des Alters?
Das neue Zeitfenster, das wir in den letzten 200 Jahren gewonnen haben, schenkt die Möglichkeit, eine Art Bilanz des eigenen Lebens zu ziehen und das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Man erhält die Gelegenheit, sich zu versöhnen, auch zu trauern. Beides kann man nur, wenn man Zeit hat. Diese fehlt einem in der aktiven Lebensphase, und sie fehlte in der Vergangenheit. Nach meiner eigenen Erfahrung birgt altern auch Zeit, Zärtlichkeit und Liebe einzuüben. Man kann sich in der karitativen Liebe üben, die man jemandem schenkt, der sie einem nicht in der gleichen Form zurückgeben kann, etwa wenn der Partner oder ein Freund dement wird. Und schliesslich hat man Zeit, zu sterben.

Gerade vor der Demenz, die im Alter häufig ist, haben viele grosse Angst.
Es herrscht ein falsches Bild vor von Alzheimer und Demenz. Ich kenne viele solche Pflegestationen. Da herrscht keineswegs der Schrecken, den man sich vorstellt. Auch literarische Schilderungen, etwa von Jonathan Franzen und Arno Geiger oder der Film «Vergiss mein nicht» von David Sieveking zeichnen ein anderes Bild. Alle versuchen Verständnis für diese Krankheit zu wecken.

Die Demenz gilt verbreitet als entwürdigende Krankheit.
Ja, vor den Werten unserer Gesellschaft, in der das Produktive über alles gestellt wird. Vergessen, das mit ihr einhergeht, ist für manche eine Wohltat. Die medizinische Forschung versucht, eine Pille zu entwickeln, die hilft, zu vergessen. Übrigens: Das Sterben fällt den Menschen leichter, wenn sie alt und krank sind. Nur dann lässt sich an einer Abdankung sagen: «Er oder sie ist gerne gegangen.»

Sehen Sie etwas Positives darin, dass man in den letzten Lebensjahren oft krank und schwach wird?
Überall ist von der Notwendigkeit die Rede, zu entschleunigen, bescheidener zu leben. Älter werden beinhaltet dies. Es werden andere Werte wichtig: Lebensfreude, nachdenken, Beziehungen und vieles mehr.

Haben die Alten so gesehen revolutionäres Potenzial?
Ja, das haben sie. Wenn die Babyboomer ins Alter kommen, werden sie Druck machen. Auch bezüglich altersgerechter Produkte. Die Alten zetteln auch keine Kriege an. Die Gesellschaft gewinnt viel durch die Alten: Sie profitiert von ihrer Gelassenheit, ihrem Know-how und nicht zuletzt von ihrer Freiwilligenarbeit.

Sie bezeichnen es als Glücksfall, dass heute viele Menschen weit über 80 werden.
In den zehntausend Jahren Geschichte, die wir kennen, kam es noch nie vor, dass die Leute so alt wurden wie wir heute in Europa. Seneca oder Cicero waren Ausnahmen. Sie waren Vertreter einer elitären Bevölkerungsschicht. Ich halte das Wachstum der Lebenserwartung für die grösste Errungenschaft der letzten 200 Jahre. Das wird in der Altersdiskussion unterschlagen. Im Gegenteil: Man fasst das Altwerden als eine Art zivilisatorische Strafe auf.

Altersdepression ist verbreitet 
Natürlich hat das Alter eine Kehrseite. Die spüre ich auch. Es ist verbunden mit Mühsal und Zumutungen.

Wie gehen Sie damit um?
Ich bin 73 und rüstig, aber ich lebe zunehmend im «Weniger». Nicht mehr leisten, sondern weniger. Nicht mehr Hemden, sondern weniger. Es ist natürlich eine Herausforderung, die nicht allen gelingt, mit dem fertig zu werden und die Erfahrungen, die man in diesem Lebensabschnitt macht, entsprechend umzuwandeln.

Sie haben von immaterieller Vorsorge gesprochen. Wie lässt sich diese verwirklichen?
Weil das hohe Alter neu ist, ist es für alle ein gigantisches Selbstexperiment. Niemand hat ein Skript, in dem er lesen kann, wie er altern soll. Zur Zeit pröbeln alle herum und entsprechende Ratgeber zieren die Bestsellerlisten. Irgendwann wird es vielleicht zu einer Art Vorlage kommen, wie man das gut macht, die auch anderen nützen kann.

Wie machen Sie es?
Mein Rezept im Leben lautet: schauen, wie es die Leute machen, von denen man glaubt, dass sie es gut machen, und von ihnen lernen.

Haben Sie keine Angst vor Einsamkeit, Abhängigkeit, Schmerz?
Eigentlich nicht. Meine Devise ist: Ich möchte nie allein in die Notfallstation gehen müssen. Ich bemühe mich, eine so gute Beziehung zu Menschen zu haben, dass ich jemanden habe, der oder die mich begleitet und für mich schaut. Dann habe ich auch keine Angst vor der Pflegeabteilung.

Vor kurzem haben Sie Ihre Frau verloren. Der Tod ist schrecklich.
Sterben ist und bleibt, auch wenn eine Gesellschaft ohne Tod nicht minder schrecklich wäre, eine schmerzliche Erfahrung. Ich konnte von meiner lieben Ursula Abschied nehmen. Ein jäher Tod wäre viel schlimmer gewesen. Merkwürdig, wie viele Menschen ein langes Leben wünschen, aber einen schnellen Tod. Man muss mit dem Sterben zu leben versuchen. Es gehört zu einem ganzen Leben.




Buchhinweis: Peter Gross, Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu? Herder-Verlag 2013, 4. Auflage




Kampagne «Alles hat seine Zeit»
Die Reformierten Kirchen der Schweiz, Justizia et Pax sowie Pro Senectute führen eine nationale Sensibilisierungskampagne zum hohen Alter durch. Unter dem Titel «Alles hat seine Zeit» plädieren die Initianten dafür, die Diskussion über das hohe Alter umfassender zu führen und hochaltrige Menschen nicht bloss unter ökonomischen Aspekten zu betrachten. Mit ihrer Lebenserfahrung seien sie ein wertvoller Teil der Gesellschaft. In der ganzen Schweiz finden Veranstaltungen statt.

Barbara Helg

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Links:
www.alleshatseinezeit.ch


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