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Peter Schneider: «Es gibt nichts Gutes am Rassismus»

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01.01.2016
Mit der Kampagne «Basel zeigt Haltung» stellen sich Basel und die Kirchen gegen Rassismus und Antisemitismus. Psychoanalytiker Peter Schneider erklärt, wie «political correctness» hilft und warum man das Wort «Neger» nicht aus alten Kinderbüchern entfernen sollte.

Herr Schneider, im Vorfeld einer Demonstration gegen die Bombardierung des Gazastreifens durch Israel gab es antisemitische Hasstiraden auf Facebook. Die mediale Empörung war gross. War sie übertrieben oder berechtigt?
Medien lieben zweierlei: den Einzelfall, welcher der Empörung ein Gesicht gibt, und die Generalisierung, also die berüchtigte Behauptung, dass der Einzelfall kein Einzelfall ist. Die Autoren solcher antijüdischer Slogans dürften einfach zu ermitteln sein. Und ich wünsche mir, dass sie hart bestraft werden. Dass jedoch derzeit eine besorgniserregende antisemitische Welle über die Schweiz hereingebrochen ist, sehe ich nicht. Wohl aber eine völlig überflüssige Identifikation mit «den» Palästinensern, die zurzeit in Gaza leider durch die Hamas repräsentiert werden, oder aber mit der Politik Israels.

Warum sollte man sich nicht mit einer Seite identifizieren?
Dabei wird völlig übersehen, dass weder die palästinensische noch die israelische Gesellschaft homogen sind. Es gibt auf beiden Seiten Kräfte, die zu einem Frieden bereit wären, und es gibt Kräfte, die sich wechselseitig den Tod wünschen. Letztere scheinen im Moment in der Mehrheit zu sein. Es gibt aber keinen Grund, diese Kriegssituation hierzulande durch blinde Solidarisierung nachzustellen.

Aber man hat schon das Gefühl, die Hemmschwelle, sich in der Öffentlichkeit antisemitisch zu äussern, sei gesunken.
Diese Hemmschwelle ist in unserem Land generell sehr hoch. Wenn sie irgendwo gesunken ist, dann zusammen mit anderen Hemmschwellen im anonymen Bereich des Internets. Aber auch bei dieser Frage muss man ins konkrete Detail gehen. In Ungarn zum Beispiel ist der Antisemitismus wieder eine offizielle Strömung geworden. In Frankreich gerieren sich insbesondere arabische Secondos als Konfliktpartei. Dabei mischen sich antiisraelische und antisemitische Haltungen zu einem gefährlichen Konglomerat.

Sind wir in den letzten Jahren rassistischer geworden?
Über welchen Zeitraum gemessen? Wer sind «wir»? Wenn man über so ein grosses, letztlich unbestimmtes Kollektiv spricht, dann verliert man sich in unhaltbaren Spekulationen. Nehmen wir einmal die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Zeit des Anti-Kolonialismus und der Dekolonisation. 1952 erscheint Claude Levi-Strauss kleine Schrift «Rasse und Geschichte», die zeigt, wie absurd ein biologisch begründeter Rassismus ist. Seither ist der Rassismus nicht ausgestorben, aber delegitimiert. Der Rassismus ist als offizielle Ideologie unhaltbar geworden, er ist nun etwas, «das man ja leider nicht mehr offen aussprechen darf». Von diesem perfiden Ressentiment profitieren dann rassistische Parteien wie der «Front National».

Inwiefern?
Die Rassisten führen sich als Unterdrückte auf unterdrückt von der Moral der Herrschenden. Ausgeschlossen vom offenen Diskurs. Auf diese verquere Weise kann sich der Rassismus am Leben erhalten.

Wie lässt es sich denn erklären, dass viele Leute die Leichtathleten Mujinga Kambundji und Kariem Hussein lieben, aber keine Schwarzen und Muslime?
Weil sie die beiden zu kennen glauben. Aber davon einmal abgesehen: Warum sollte man Schwarze und Muslime lieben? Die Liebe zu einem einzelnen Menschen ist ja schon schwierig genug.
Jeder Mensch hat doch Vorurteile. Wo fängt Rassismus an?
Man sollte beides nicht in einen Topf werfen. Bestenfalls haben Vorurteile eine gewisse Erfahrungssättigung. Sie helfen uns dabei, uns einfacher in der Welt zu orientieren, verhindern andererseits manchmal auch neue Erfahrungen. Vorurteile sind manchmal nützlich, manchmal hinderlich. Rassismus ist eine Theorie und Praxis der Unterordnung, Beherrschung und auch Ausrottung von Gruppen von Menschen nach biologischen oder pseudobiologischen Gesichtspunkten. Es gibt nichts Gutes am Rassismus.

Ist der Mensch grundsätzlich ein Rassist?
In letzter Zeit wird gerne damit argumentiert, was der Mensch eigentlich, seinem Wesen nach, ist: Im Grunde sei der Mensch immer noch Höhlenbewohner, der niemand anderen in seine Höhle lassen will, und Mädchen trügen von Natur aus gerne Rosa, weil die Frauen vor 30'000 Jahren Sammlerinnen waren und einen Überlebensvorteil hatten, wenn sie wegen ihrer Liebe zu Pink mehr Himbeeren pflücken konnten. Diese Argumentationsformen sind Unfug und dem rassistischen Denkmodell ähnlich: Der Mensch ist nun einmal von Natur aus so und so, und dagegen darf man keine Politik treiben. Diese Haltung ist zutiefst kulturfeindlich.

Viele sind verunsichert, was man sagen darf und was nicht. Was raten Sie?
Wenn man einen solchen Rat will, sitzt man schon in der Falle. Nämlich der, sich vorzustellen, es gebe da irgendwo eine gestrenge Gesinnungspolizei, vor deren Urteil man mit seinen Äusserungen bestehen muss. Das ist eben die Falle, die wie gesagt der «Front National» aufstellt. Sie lockt mit dem süssen Duft der Freiheit, endlich mal reden zu dürfen, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Aber eine Gesinnungsinstanz, die einem das verbietet, gibt es nicht. Es gibt lediglich das Strafgesetzbuch, das es zum Beispiel nicht erlaubt, andere Menschen zu beschimpfen. Man sollte sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Helfen die Vorgaben der «political correctness» gegen Rassismus und Antisemitismus?
Ja, sofern man aus der ganzen Sache nicht diese Art von absolut ironiefreiem Spiel macht: «Wer zuerst Diskriminierung ruft, hat gewonnen!» Über «political correctness» ist viel gelästert worden, und sie hat gewiss viele Stilblüten guten Willens hervorgebracht. Sie hat aber auch gezeigt, dass Sprache nicht nur als ein neutrales Instrument dazu dient, die Welt zu beschreiben, sondern dass sie auch Teil unseres Handelns ist. Sprechen heisst, «Sprechakte» begehen, wie es der Sprachphilosoph John L. Austin genannt hat. Es gibt Sprechakte, die man anderen nicht antun sollte. Sprechen ist aber nicht nur Handeln, es ist auch etwas, das dem geschichtlichen Wandel unterliegt.

Können Sie ein Beispiel geben?
Es ist unsinnig, das Wort «Neger» aus allen alten Kinderbüchern zu entfernen. Aber es ist genauso unsinnig, auf dem Recht zu beharren, auch weiterhin von «Negern» sprechen zu dürfen. Die radikal-politisch Korrekten teilen sich mit den radikal-politisch Unkorrekten eines: ihre Blindheit gegenüber der Geschichtlichkeit von Begriffen.

Interview: Karin Müller. Das Interview wurde schriftlich geführt.

Links:
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Psychoanalytiker Peter Schneider.

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