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Verändert die Sterbehilfe unsere Gesellschaft?

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01.01.2016
Im letzten Jahr traten 8000 Personen Exit bei. Was ist mit der Gesellschaft los, dass die Sterbehilfeorganisationen einen solchen Zulauf verzeichnen? Sterbehelfer Walter Fesenbeckh und der Theologe Heinz Rüegger über die Angst vor Demenz und die Schwie- rigkeit der Gesellschaft, mit hohem Alter umzugehen.

Im Sommer machte Exit Schlagzeilen, als sich der Verein für den Bilanzsuizid starkmachte. Lebenssatte sollen das Recht bekommen, sich mithilfe von Exit umzubringen. Wird damit eine Grenze überschritten?
Rüegger: Nein, der Beschluss von Exit bringt gar nicht viel Neues. Schon heute wird die Regelung in einer offenen Art gehandhabt. Mit diesem Schritt setzt Exit jedoch in der Gesellschaft ein falsches sozialethisches Zeichen. Das finde ich problematisch.
Fesenbeckh: Wir reden hier ja nicht vom rüstigen Greis, der vom Tennis kommt. Menschen, die erklären, sie seien lebenssatt oder lebensmüde, sind meist schwer beeinträchtigt. Das Augenlicht und das Gehör lassen nach. Die Mobilität ist eingeschränkt und manche schaffen es mit dem Rollator nur noch ins Badezimmer. Vor einem Jahr erklärte mir eine Dame, nennen Sie mir einen Grund, warum ich weiterleben muss. Ich habe prächtige Kinder und Enkel, zu denen ich eine gute Beziehung pflege. Aber ich spüre trotzdem tief in mir drinnen, dass ich den Willen zum Leben verloren habe Der Sinnkreis des Lebens hat sich für mich geschlossen. Ausserdem möchte ich auf keinen Fall meine Selbstständigkeit verlieren und in ein Pflegeheim ziehen müssen.

Wenn der rüstige Rentner nicht mehr funktioniert, wird Schluss gemacht. Steht dahinter nicht ein problematisches Bild, das es erschwert, mit den Schattenseiten des Alters umzugehen?
Fesenbeckh: Ja. Unsere Gesellschaft ist in dieser Hinsicht schizophren: Wir unternehmen alles, um älter zu werden. Die Hochaltrigkeit jedoch erscheint uns nur als negativ und wertlos. Das ist nicht gut. Wir brauchen ein gesellschaftliches Umfeld, das Betagten hilft, ihr Leben so gut und mit so viel Freude wie möglich zu führen.
Rüegger: Im Moment geht die Tendenz jedoch in eine andere Richtung. Untergründig entsteht ein Klima, das vermittelt, wenn du nur noch «dahinvegetierst», nichts mehr leistest und die Gesundheitskosten hochtreibst, dann ist es angezeigt, zu gehen. Das ist sehr problematisch. Wir erleben etwas Ähnliches bei der pränatalen Diagnostik. Paare, die ein Kind mit Trisomie 21 bekommen und nicht abtreiben, geraten in Begründungsnotstand. Sie müssen sich rechtfertigen, warum sie das sich und der Gesellschaft zumuten.
Fesenbeckh: Wir leben in einer seniorophoben Gesellschaft. Attraktiv scheint das Alter nur, wenn man fit und gesund ist. Für diesen gesellschaftlichen Trend kann man aber nicht die Sterbehilfeorganisationen verantwortlich machen. Bei der Entscheidung, mit Exit aus dem Leben zu scheiden, spielt der gesellschaftliche Kontext keine Rolle. Jedes Jahr sterben in der Schweiz 63'000 Menschen. Davon stirbt lediglich ein Prozent mithilfe eines Sterbehilfevereins. Mehr als 90 Prozent beenden ihr Leben auf dem palliativen oder kurativen Weg.
Rüegger: Da muss ich widersprechen. Wir treffen unsere Entscheidungen in einem Umfeld, das uns subtil und beharrlich beeinflusst. Das hohe Alter widerspricht sämtlichen Werten der modernen Gesellschaft: Es gilt pauschal als Zeit, da man nicht mehr leistungs- und genussfähig und nicht mehr mobil ist und das Risiko einer Demenz besteht. Wäre es da nicht Zeit, sich würdig aus dem Leben zu verabschieden? Als Gesellschaft haben wir die Verantwortung, in die umgekehrte Richtung zu wirken und Betagten ein würdiges Leben zu ermöglichen, ohne dass sie sich für ihre Existenz rechtfertigen müssen.

Der finanzielle Druck im Gesundheitswesen nimmt zu: Wenn jemand in ein Pflegeheim eintritt, brauchen die Kosten das Vermögen und das Haus bald einmal auf. Macht man da seinen Kindern nicht einen Gefallen, wenn man früher aussteigt?
Fesenbeckh: Nein. Man spart ja doch nicht, damit sich die Erben später bereichern, sondern vor allem als Reserve fürs Alter.
Rüegger: Der finanzielle Aspekt wird durchaus zum Thema. Das höre ich tatsächlich aus Heimsituationen.

Sie sprechen die Demenz an, vor der sich viele fürchten.
Fesenbeckh: Bei Dementen fällt die geistige Präsenz und Urteilsfähigkeit nicht schlagartig aus, sondern es ist ein Prozess in Phasen, die heller und dunkler sind. Einige verweigern sich vor diesem Leben «als Schatten meiner selbst», wie dies Hans Küng formuliert, und wenden sich an Exit.

Hat man kein Recht, im Alter vergesslich und als «Schatten seiner selbst» zu leben?
Fesenbeckh: Natürlich hat man das Recht. Die Frage lautet aber doch, will man dies?
Rüegger: Unser Bild vom Alter wird von gesellschaftlichen Werten und Vorstellungen geprägt, welche die Vernunft über alles betonen. In Afrika ist dies anders. Unsere Gesellschaft muss künftig ein Menschenbild entwickeln, das Aspekte wie das blosse Dasein, das Empfinden und Empfangen höher bewertet. .

Fehlen da gute Bilder über die Demenz?
Rüegger: Die Gesellschaft hat es bis jetzt verpasst, ein Sinnkonstrukt für das hohe Alter zu schaffen, das Einschränkungen integriert. Der Soziologe Peter Gross spricht von einer Sinnfinsternis, die über dem Alter liegt. Künftig werden mehr Menschen dement sein. Es braucht da eine Gesellschaft, die diese Form des Alters ernst nimmt und nicht marginalisiert und diese Menschen unterstützt. Auch wenn in diesem Alter das Leben nicht lustig und sexy ist.
Fesenbeckh: Es braucht beides: Sterbehilfe und eine Kultur der Fürsorge und Pflege für Betagte, sodass diese nicht das Gefühl haben, ihr Leben sei nur noch körperliches Leiden, Abstieg und Sinnverlust. Nur dann haben wir eine echte Wahl, uns zu entscheiden, wie wir unser Leben beenden wollen. Es wäre doch schön, wenn wir vermehrt nach einem Besuch in einem Pflegeheim sagen könnten: «Mensch die haben es gut. Das ist ja toll! So könnte ich mir dies auch vorstellen.»

Zu etwas anderem: In Belgien diskutiert man zurzeit, ob ein schwerkrankes Kind durch Suizidbeihilfe aus dem Leben scheiden darf.
Fesenbeckh: Damit stellen sich zahlreiche offene Fragen: Was heisst da Kind? Ist die Person sechs oder sechzehn Jahre alt? Ist ein Kind überhaupt in der Lage, einen solchen Entscheid autonom zu fällen? Ich denke Nein. An Exit wenden sich selten junge Menschen, die knapp über 18 Jahre alt sind.
Rüegger: Ein begleiteter Suizid setzt die Urteilsfähigkeit des Betroffenen voraus. Das ist bei einem Kind nicht gegeben. Es kann nicht autonom entscheiden.

Sie beide sind Mitglied bei Exit. Warum?
Fesenbeckh: 1992 erlebte ich das qualvolle Sterben meiner Mutter, die einen Tumor hinter dem Auge hatte. Der Tumor wuchs rasch. Sie litt enorm unter den Schmerzen. Durch die Behandlung wurde sie morphiumsüchtig und starb qualvoll. Als Pfarrer begegnete ich immer wieder Menschen, die mir erklärten, wenn sie nur sterben könnten. Die meisten reden das so vor sich hin. Doch bei Einzelnen kann ich dies nachvollziehen, dass sie sterben möchten. Schliesslich überzeugte mich die Argumentation von Hans Küng und Walter Jens in ihrem Buch «Menschenwürdig sterben». Die beiden erklären, dass uns das Leben geschenkt wurde und wir in allen Belangen dafür die Verantwortung tragen.
Rüegger: Für mich ist die Mitgliedschaft bei Exit eine ultima ratio. Wie die meisten habe ich nicht vor, durch begleitenden Suizid aus dem Leben zu scheiden. Es gibt jedoch Situationen, in denen das Leben zur Qual wird. In solchen Momenten ist es theologisch legitim, dass man das Geschenk des Lebens in die Hand Gottes zurückgibt.

Sie beide sind Pfarrer. Was sagt die christliche Botschaft zur Suizidbeihilfe?
Rüegger: Kürzlich erklärte mir ein Ethiker, das Leben sei eine Leihgabe. Ich widersprach ihm, das Leben ist doch ein Geschenk. Zwischen Leihgabe und Geschenk besteht ein fundamentaler Unterschied. Wenn ich beispielsweise ein Auto borge, bin ich verpflichtet, es intakt zurückzugeben. Bei einem Geschenk ist es mir überlassen, ob ich das Auto jahrelang fahre oder es nach einer gewissen Zeit weggebe. So wie Gott uns die Freiheit gibt, das Leben autonom und verantwortlich zu führen und es zu verlängern, so gibt er uns die Freiheit, in bestimmten Situationen das Leben dankbar in Gottes Hand zurückzugeben.

Herr Fesenbeckh, Sie begleiten Menschen als Sterbehelfer aktiv in den Tod. Hat sich dadurch Ihre Sicht auf das Leben verändert?
Fesenbeckh: Als Pfarrer habe ich es immer wieder mit dem Tod zu tun, bei den Abdankungen und beim Besuch am Sterbebett oder in den Spitälern. Das Sterben war mir nicht fremd. Durch das Erlebnis des selbstbestimmten Sterbens entstand das Gefühl, der Tod ist ein freundlicher alter Herr, der um die Ecke auf mich wartet. Der Tod hat etwas von seiner Starre, von seiner Fratzenhaftigkeit verloren und ist zu einer freundlichen Gestalt geworden. Ich kann ihm dann mit einem Lächeln gegenübertreten.



Heinz Rüegger, der Theolog, Ethiker und Gerontologe ist Autor zahlreicher Bücher zum Alter und Sterben und arbeitet am Instituts
Neumünster, ZH.
Walter Fesenbeckh, der Pfarrer arbeitete bis zu seiner Pensionierung in Bülach und ist heute Freitodbegleiter bei Exit.


Zum Bild: Theologe Heinz Rüegger (links) und Sterbehelfer Walter Fesenbeckh im Gespräch.

Interview: Tilmann Zuber

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