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«Eine Diskussion über das Alte Testament muss möglich sein»

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01.01.2016
In Deutschland wird hitzig diskutiert, welche Position das Alte Testament in der christlichen Bibel einnehmen soll. Der Theologe Thomas Krüger versteht die Aufregung nicht. Für ihn machen gerade die Unterschiede zwischen Altem und Neuem Testament die Bibel interessant.

Herr Krüger, in der Debatte in Deutschland wurde vorgeschlagen, das Alte Testament in die Apokryphen zu verschieben, in die «illegale» Bibel quasi. Worum geht es in dieser Diskussion?
Es geht nicht so sehr darum, wo das Alte Testament in der Bibel seinen Platz findet. Dass es zu den Apokryphen gehören soll, hat schon vor 100 Jahren der Berliner Theologe Adolf von Harnack vorgeschlagen. Die Apokryphen sind übrigens keineswegs «illegal», sondern haben nur nicht den gleichen Rang wie die anderen Teile der Bibel. Der reformierte Theologe Friedrich Schleiermacher hat zudem bereits im 19. Jahrhundert angeregt, das Alte Testament als Anhang zum Neuen Testament zu nehmen.

Worum geht es dann in dieser Debatte?
Es geht darum, welche Bedeutung das Alte Testament für Christen und Christinnen heute hat beziehungsweise haben sollte. Dazu hat der Berliner Theologieprofessor Notger Slenczka vor zwei Jahren einen Aufsatz veröffentlicht. Er schreibt ungefähr, dass das Neue Testament anders als das Alte von Christen geschrieben wurde. Wenn man wissen will, was die ersten Christen gedacht haben, muss man deshalb zum Neuen Testament greifen und nicht zum Alten. Heutige Christen können auch im Alten Testament vieles finden, was sie inspiriert und theologisch weiter bringt. Aber was das Christentum von seinem Ursprung her ausmacht, kann ihnen nur das Neue Testament zeigen. Ich finde, darüber kann man mindestens diskutieren, und verstehe die Aufregung nicht ganz.

Verweist die Debatte auf etwas Grundsätzliches?
Sie zeigt, dass die Frage nach der Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum immer wieder neu diskutiert werden muss. Sie zeigt leider auch, dass es in Deutschland Theologieprofessoren gibt, die ihren Kollegen lieber Ketzerhüte aufsetzen als mit ihnen zu diskutieren. An einer Universität muss aber auch in der Theologie die Freiheit von Forschung und Lehre gelten. Und die Debatte zeigt, wie schwierig es in Deutschland ist, theologische Fragen sachlich zu diskutieren, die irgendwie auch das geschichtlich belastete Verhältnis von Judentum und Christentum berühren.

Im Alten Testament stehen etliche grausame Dinge. Wäre die christliche Bibel, auf das Neue Testament reduziert, nicht elegant einige schwierige Texte los?

Sicher wäre sie das. Aber das Neue Testament enthält auch viele schwierige Texte, zum Beispiel Visionen von ewigen Höllenqualen, Vorstellungen von Dämonen und Besessenheit, oder Aussagen über die Unterordnung der Frauen oder über die Sklaverei, die im Christentum heute weitherum nicht mehr vertreten werden. Man müsste deshalb wohl auch das Neue Testament radikal zusammenstreichen, wie es der antike Theologe Marcion im 2. Jahrhundert getan hat.

Könnte man sich quasi à la carte bedienen? Hohes Lied und Psalmen ja, das Buch Richter nein?
Das geschieht ja heute faktisch vielfach in den Kirchen. Meist wird nur eine kleine Auswahl alttestamentlicher Texte im Unterricht oder in der Predigt behandelt. Man sollte sich aber unbedingt auch mit den schwierigen Texten auseinandersetzen.

Warum?
Wir sind ja heute nicht mehr der Meinung, dass alles stimmt, was in der Bibel steht. Dafür gibt es in der Bibel eine viel zu grosse Meinungsvielfalt. Man muss nicht glauben, dass Gott befohlen hat, ganze Völker auszurotten. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, was Menschen dazu gebracht hat, so über Gott zu denken und auch darüber zu erschrecken, wie grausam und unüberlegt wir selbst manchmal von Gott reden und denken. Wir sollten die Vielfalt und Sperrigkeit der Bibel als einen Schatz von Gedanken und Geschichten sehen, die helfen, Erfahrungen zu deuten und neue zu machen. Es geht deshalb nicht darum, die Bibel so weit zu «entschlacken», dass am Ende nur noch darin steht, was wir heute vertreten können, sondern darum, sie kritisch zu lesen.

Das Neue Testament ist aber grundsätzlich wichtiger für Christen. Einverstanden?

Darüber müsste ich länger nachdenken. Sicher gibt das Neue Testament ein direkteres und klareres Zeugnis von Jesus und den Ursprüngen des Christentums als das Alte. Aber andererseits sind wahrscheinlich vielen Christen die Zehn Gebote, die Psalmen, die Geschichten der Genesis, Hiob oder manche Aussagen der Propheten wichtiger als zum Beispiel der Hebräerbrief, der Zweite Petrusbrief oder der Judasbrief.

Der Ägyptologe Jan Assmann hat gesagt, ohne das Alte Testament werde das Christentum zu einer Sekte. Ihr Kommentar?
Ich weiss nicht, was Jan Assmann unter einer Sekte versteht. Dieser Begriff wird heute in der Religionswissenschaft sehr kritisch gesehen. Auf jeden Fall denke ich, dass es neben dem Umgang mit dem Alten Testament noch eine Menge anderer Faktoren gibt, die die Zukunft des Christentums beeinflussen. Zum Beispiel seine Haltung zur kapitalistischen Ökonomie, zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder zum naturwissenschaftlichen Weltbild.

Müsste man im Grunde nicht auch die Juden fragen? Ist das Alte Testament nicht «ihr» Buch?
Nun ja, es gibt hier wohl kein «Copyright». Ich denke, das Alte Testament ist mittlerweile ein Teil des kulturellen Erbes der Menschheit geworden und «gehört» weder den Juden noch den Christen.

Wie sehen Sie denn das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament?
Als man die Bücher schrieb, aus denen später das Neue Testament wurde, hat es noch gar kein Altes Testament gegeben. Es gab «heilige Schriften», «das Gesetz und die Propheten», aber noch keine genau definierte jüdische Bibel. Das Judentum war damals vielfältig - und ist es ja auch heute noch. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament ist also recht komplex und muss im grösseren Kontext der frühjüdischen und frühchristlichen Literatur untersucht werden. Grundsätzlich enthält aber das Alte Testament die älteren Traditionen, die im Neuen Testament kritisch durchdacht und weiter entwickelt werden.

Dann ist die Zusammenstellung von Altem und Neuem Testament gerade die Stärke der christlichen Bibel?

Ja. Die zweiteilige christliche Bibel hat nicht nur das Ergebnis dieses theologischen Nachdenkens festgehalten, sondern den Prozess des Nachdenkens und Diskutierens selbst. Damit fordert sie heraus, nicht an vermeintlich ein für alle Mal festgeschriebenen «Wahrheiten» zu kleben, sondern im kritischen Nachdenken und Diskutieren über die biblischen Texte zu eigenen, neuen Einsichten und Urteilen zu kommen.

Das Interview wurde schriftlich geführt.


Thomas Krüger
Thomas Krüger ist Professor für alttestamentliche Wissenschaft und altorientalische Religionsgeschichte an der Universität Zürich.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: «Es geht nicht darum, die Bibel so weit zu entschlacken, dass am Ende nur noch darin steht, was wir heute vertreten können», sagt Thomas Krüger.
Matthias Böhni / ref.ch

Interview: Matthias Böhni / ref.ch

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