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«Die Pfarrer haben Angst, die Leute zu erschrecken»

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01.01.2016
Fällt die Kirche aus der Zeit? Sind die alten Kirchenworte wie «Allmacht», «Sünde», «Reich Gottes» schuld, dass sie heute niemand mehr versteht? Sollten wir sie durch ein modernes Vokabular ersetzen? Die Theologin Ina Praetorius geht den alten Worten nach und setzt den Staubwedel an.

«Allmacht», «Erbarmen», «Sünde», «Hölle», «Glauben» oder «Reich Gottes». Wenn man einen Gottesdienst besucht, fallen diese Wörter. Sie gehören für viele Pfarrpersonen quasi zum Gewohnheits­vokabular. Fallen diese Worte nicht aus der Zeit?
Ich bin mir gar nicht so sicher, wie oft die alten Worte in Gottesdiensten tatsächlich vorkommen. Ich erinnere mich: Früher, so ungefähr bis zu meinem fünfunddreissigsten Lebensjahr, bin ich nur selten in die Kirche gegangen. Trotzdem meinte ich damals ganz genau zu wissen, wie es dort zugeht: langweilig, verstaubt, patriarchal. Seit ich regelmässig Gottesdienste besuche, habe ich eher den Eindruck, dass Pfarrerinnen und Pfarrer einen Bogen um die alten Worte machen, aus lauter Angst, die Leute zu erschrecken. Sie wollen verständlich und zeitgemäss reden, und das ist auch gut so. Bloss werden die Predigten dadurch manchmal ein bisschen farblos. Mich machen die alten Wörter neugierig. Eine Predigt, in der mir jemand erklärt, was «Gnade» oder «Allmacht» bedeutet und warum man auf solche Wörter nicht einfach verzichten kann, interessiert mich mehr als eine, die unbedingt modern sein will.

Ich finde, dass verstaubte Begriffe in Predigten immer noch häufig vorkommen. Ist das eine Form von Bequemlichkeit?
Stimmt: Es gibt Worthülsen. Also Wörter, die man nicht nur die Pfarrerin! einfach so hinsagt. Zum Beispiel: «Oh mein Gott!» oder «Zur Hölle mit dem Montagmorgen!»» Auch Pfarrpersonen haben manchmal nicht genug Ruhe, um die Wörter so sorgfältig zu setzen, dass die Vermittlung von Tradition und Gegenwart gelingt. Aber genau das wäre der Anspruch an eine gute Predigt. Einfach weglassen kann man die alten Wörter ja sowieso nicht, denn viele von ihnen kommen schliesslich in der Bibel und in Kirchenliedern vor. Es lohnt sich, das, was Sie als «Bequemlichkeit» wahrnehmen, immer wieder zu überwinden und sich als Pfarrerin oder Pfarrer zum Beispiel bewusst zu fragen: Wie wirkt mein Reden auf eine Person, die heute seit langem wieder einmal den Weg in die Kirche gefunden hat? Natürlich braucht es dafür vor allem eins: die Überzeugung, dass die alten Worte wertvoll sind und uns, wenn wir sie mit Liebe auslegen, das Leben erleichtern.

Was macht den Wert der alten Worte aus?
Da steckt die Lebenserfahrung vieler Generationen drin! Ich gehe davon aus, dass die religiösen Kern-Wörter meinen Vorfahrinnen und Vorfahren geholfen haben, ihr Leben zu bestehen, auch in sehr schwierigen Zeiten. Es interessiert mich, warum sie mir gerade diese und nicht andere Wörter überliefert haben.
Wie kann man zum Beispiel das Wort «Sünde» mit Liebe auslegen?
Alle kennen doch die Erfahrung, Fehler zu machen: Weil wir begrenzt sind, weil wir oft nicht wissen können, was wir mit unserem Tun anrichten, oder weil wir in ungerechten Verhältnissen leben. Beim Einkaufen zum Beispiel kann ich es kaum vermeiden, anderen Menschen zu schaden: Ich durchschaue einfach nicht, wie, von wem, unter welchen Bedingungen die vielen Produkte hergestellt werden, die man mir anbietet. Erst wenn ich mir eingestehe, dass ich ständig Fehler mache, kann wirken, was das Evangelium mir schenkt: Vergebung, und damit die Möglichkeit, immer wieder neu, unbelastet anzufangen.

Einige Wörter verbindet man spontan ­stärker mit uralten Zeiten als andere. ­«Allmacht», «Hölle», «Reich Gottes» zum Beispiel. Woher kommt dieses Empfinden, mit dem oft auch ein gewisses Unbehagen einhergeht?
Was man als besonders altmodisch empfindet, ist subjektiv. Ich selber habe zum Beispiel besonders Mühe mit dem Wort «Glauben». Das liegt wohl daran, dass meine Mutter diesen Begriff fast nur ironisch gebraucht hat, weil sie sich in ihrer Jugend vehement vom schwäbischen Pietismus emanzipiert hatte. Mit Begeisterung hat sie sich über «die Gläubigen» lustig gemacht.
Mit der «Allmacht» hingegen habe ich mich versöhnt, als ich mein Buch über das Glaubensbekenntnis geschrieben habe. Inzwischen empfinde ich dieses Wort als aktuell und hilfreich. Es bezeichnet nämlich einfach die Erfahrung, dass kein Mensch den Lauf der Welt im Griff haben kann. Oder wissen Sie, ob Sie morgen noch am Leben sein werden? Wer entscheidet darüber? Darauf zu vertrauen, dass hinter allem, was mir geschieht, eine einzige gütige All-Macht wirkt, hilft leben.

Haben Sie für sich eine Alternative zum Wort «Glauben» gefunden?
Ja: Vertrauen. Gott-Vertrauen.

Müsste ein aktuelles Vokabular für Glaubensinhalte gefunden werden, um mit heutigen Menschen in ihrer Sprache darüber sprechen zu können?
Von schematischen Lösungen halte ich nicht viel. Ich hätte keine Lust, ein Lexikon zu schreiben, in dem wir die alten Wörter eins zu eins in neue übersetzen. Die vermeintlich besseren «modernen» Wörter würden schnell wieder zu langweiligen Schablonen erstarren. Die Übersetzungsarbeit vollzieht sich anders, individueller, auf konkrete Situationen und Lebensgeschichten bezogen. Ich bin mir sicher, dass sich die Übersetzung schon ständig ereignet: in seelsorgerlicher Begleitung, in Abdankungen, im Theater und in der Sonntagsschule. Dass die alten Worte in immer wieder anderen, unwiederholbaren Situationen zu neuem Leben erwachen, habe ich schon so oft erlebt. Deshalb mache ich mir keine Sorgen um ihre Zukunft. Vielleicht werden die Kirchen in Zukunft weniger Geld und weniger Zulauf haben. Das ändert nichts an ihrer lebensförderlichen Substanz.


«Die alten Worte neu gesagt» Gedanken zu alten ­Kirchenworten und Zeitfragen von und mit Theologin Ina Praetorius. Samstag, 30. Mai, 16 Uhr, reformierte Kirche St. Othmar, Wilchingen. Musikalische ­Umrahmung durch das Schaffhauser Jazz-Trio batti3.

Interview: Adriana Schneider


Ina Praetorius.

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