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«Ich danke Gott, dass er die Katholiken geschaffen hat»

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01.01.2016
An Fronleichnam am Kirchentag in Stuttgart mit Margot Kässmann und Joachim Gauck: Das ist mehr als ein Promitreffen, sondern ebenso unterhaltsame wie provokative protestantische Zeitkritik.

Margot Kässmann ist eine, die den Mund aufmacht, eine, die sich keine Zurückhaltung und politischen Rücksichtsaufnahmen auferlegt, sondern beispielsweise einen radikalen Pazifismus missionarisch vertritt. Die langjährige Generalsekretärin des Kirchentages ist sozusagen die ungekrönte Königin des grössten Basislagers der protestantischen Laienbewegung in Deutschland. Dem tun auch die medialen Skandalisierungen um ihren bedingungslosen Pazifismus oder ihre Alkoholfahrt durch Hannover keinen Abbruch. Und so strömen schon früh morgens Tausende von Menschen in die Hanns-Martin-Schleyer-Halle beim Stuttgarter Kirchentag. Bibelarbeit mit der ehemaligen Bischöfin und aktuellen Luther Botschafterin steht an.

Die Kirchentags-Busspredigerin
Eine quirlige Frau tritt auf, gestikuliert, sucht immer wieder nach neuen Bonmots und würzt ihre Rede mit Humor. Den ersten Lacher gibt es gleich zu Anfang. Der Kollege hätte ihr gesagt, das Jesus-Gleichnis von dem ungetreuen Verwalter (Lukas 16,113) sei so verworren und vieldeutig, dass er lieber auf den Freitag ausgewichen sei. Und die Lachmuskulatur des Publikums sollte sich im Verlauf der Veranstaltung noch oft in Bewegung setzen: Wenn sie den Reichen des Jesus-Gleichnis zum «Herrn Piech (VW-Grossaktionär) des Neuen Testaments» machte oder die Seligpreisung etwas parodistisch aktualisierte: In der Bibel stehe eben nicht «Selig sind die Schnäppchenjäger», sondern «Selig sind die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit».
Beifall ist ihr auch gewiss, wenn Käßmann dazu auffordert gegen ein System, welches «das Immer-Mehr-Haben vergöttert», Widerstand zu leisten: «Wo immer wir die Logik des Mammons, des Marktes durchbrechen, kann sich Neues entwickeln, das überraschend ist», betonte die Reformationsbotschafterin.

Theoretiker der Beschleunigungsgesellschaft
Mit systemkritischem Furor trat anschliessend auch der Soziologe Hartmut Rosa auf. Der Theoretiker der Beschleunigungsgesellschaft hat aber Thesen ausgebreitet, die nicht so schnell als antikapitalistischer Populismus abgetan werden können. Wohlstandsmehrung bringe die westeuropäischen Gesellschaften immer weiter von ihrem ursprünglichen Ziel ab, ohne Knappheit, Not und Elend, aber auch ohne Angst und Unterdrückung zu leben. Denn nur noch durch mehr Innovation, mehr Wachstum, mehr Beschleunigung lasse sich weiteres Wachstum schaffen. Am Ende der Wachstumsspirale stelle sich dann das kollektive Burnout, ein: «Menschen laufen gern, wir rennen gerne, wenn es die Hoffnung auf eine Ziellinie gibt. Ohne sie aber wird der Lauf unerträglich.»
Das Ziel hat sich auch längst für die Politiker verflüchtigt. Durch das Diktat zu mehr Wachstum werde die Politik um jeden Gestaltungsraum gebracht. Deshalb tauche in der Rhetorik der Regierenden immer mehr das Wort von den Strukturzwängen auf. Für ihn ganz typisch: Politikerfloskeln von der Alternativlosigkeit, wie sie jüngst auch Angela Merkel angewandt hatte.

Der provozierte Präsident
Auf die Thesen des Soziologen aus Jena reagierte Joachim Gauck. «Zwei Gefühle ringen in mir», sagte der Bundespräsident. Als Pastor und Theologe liebe er einerseits «prophetisch vorgetragene, grundsätzliche Zeitkritik». Auf der anderen Seite sieht er in dem Rigorismus von Rosa eine «Verächtlichmachung der Welt». Das «angstmachende Dunkel» der Zeitdiagnose von Rosa mache die Menschen handlungsunfähig. «Aber es gehört zum Kirchentag, dass die Sehnsucht auf Shalom mit Forderungen an die Politik verknüpft ist.» Es war am Tonfall des Präsidenten herauszuhören: Rosas Thesen provozierten ihn.
Versöhnlich aber nahm Gauck die Forderung von Rosa auf, statt die wirtschaftlichen Eckdaten im Bruttosozialprodukt zu bündeln, lieber einen «Leuchten-in- den-Augen-Index» zu etablieren. Und zum Schluss zog er das Publikum mit einer humoristischen Pointe auf seine Seite: «Manchmal danke ich meinem Schöpfer, dass er die Katholiken geschaffen hat. Sie stehen der Freude im Leben näher als der düsteren, protestantischen Zeitkritik.»


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: Kreuzten beim Stuttgarter Kirchentag die Klingen: Bundespräsident Joachim Gauck und Soziologieprofessor Hartmut Rosa (Mitte).
Pressedienst Kirchentag

Delf Bucher / reformiert.info / 5. Juni 2015

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