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«Man sollte das Gespräch als Heilmittel sehen»

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01.01.2016
Die Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern ist die längste des Lebens. Umso schlimmer, wenn der Kontakt abbricht und eisiges Schweigen herrscht. Die Psychologin Bettina Ugolini kennt diese Situation.

Frau Ugolini, erwachsene Kinder brechen den Kontakt zu ihren Eltern ab. Begegnen Ihnen solche Fälle in der Praxis?
Ich habe zwei Frauen beraten, beide um die 70, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben. Beide hatten zwei Söhne und alle vier verabschiedeten sich ohne Begründung aus der Beziehung zu ihren Müttern. Für die beiden Frauen war es sehr schwierig, damit umzugehen. Die eine durfte keinen Kontakt mit den Enkelkindern haben. Dabei ist Grossmutter sein für einige Menschen eine der wichtigen Rollen im Alter. Es ist bitter, wenn die Kolleginnen ihre Enkelkinder hüten und man selber ahnt nicht einmal, dass eines zur Welt gekommen ist.

Warum kommt es so weit?
Wir haben es in beiden Fällen trotz Gesprächen mit den Söhnen nicht herausgefunden. Sie wollten keine Stellung nehmen. Die Frauen waren sich keiner Schuld bewusst. Beide Seiten hatten wohl unterschiedliche Wahrnehmungen. Ich glaube, dass solche Situationen aus der Familiengeschichte heraus entstehen. Vielleicht solidarisieren sich die Söhne mit dem Vater, oder die Mutter entspricht nicht ihren Erwartungen. Ich erlebe oft, dass Frauen dieser Generation in der Ehe ausharrten, um der Kinder willen, wie sie betonen. Von ihren erwachsenen Kindern hören sie dann, dass sie unter dieser Situation gelitten haben. Die Kinder werfen dann manchmal den Müttern vor, dass sie geblieben sind. Ich kann aber keine konkreten Gründe nennen. Söhne und Töchter, die den Kontakt zu Mutter oder Vater ganz abgebrochen haben, kommen nicht zu mir in die Beratung, weil das Thema für sie erledigt ist.

Sie reden nicht mehr miteinander.
Richtig. Ich begegne hingegen vielen Kindern, die den Kontakt zwar nicht ganz abbrechen, aber als Erwachsene zu ihren Eltern auf Distanz gehen oder nie eine enge Beziehung gehabt haben. Nun merken sie, dass der betagte Vater oder die alte Mutter Hilfe braucht. Eine Annäherung ist schwierig. In vielen Familien herrschen verhärtete Muster. Die Beteiligten können auch im Gespräch unter Anleitung kaum aus diesen ausbrechen. Ein Wiederzueinanderfinden bedeutet jedoch, dass beide bereit sein müssen, gewisse Dinge zu klären. Man muss sich am Ende nicht in den Armen liegen, doch man sollte verstehen, was den anderen bewegt. Wenn der Sohn oder die Tochter jetzt sagt, für sie sei das Thema beendet, dann ist die Tür zu.

Müssen die Eltern das akzeptieren?
Die Eltern müssen sich so verhalten, wie es ihnen selbst entspricht. Wenn sie das Gefühl haben, dass jeder weitere Annäherungsversuch sinnlos ist, müssen sie lernen, damit umzugehen. Wenn sie glauben, noch nicht alles unternommen zu haben, sollten sie auf jeden Fall das Gespräch suchen. Wenn eine Klärung mündlich nicht möglich ist, kann man versuchen, seine Empfindungen in einem Brief mitzuteilen.

Haben Eltern kein Recht auf den Kontakt mit ihren Kindern?
Ein Kontakt zwischen Eltern und Kindern ist etwas Normales, Gesundes. Aber dass sie ein Recht darauf hätten mit solchen Aussagen bin ich sehr vorsichtig. Wie häufig der Kontakt ist und welche Qualität er hat, hängt vom gelebten Leben ab. Heute haben wir 90-jährige Eltern mit 70-jährigen Kindern. Wer sagt uns, dass die Kinder gesünder sind als die alten Eltern und den Kontakt aufrechterhalten können? Vielleicht war die Beziehung über Jahrzehnte konfliktreich und unterkühlt. Dann können die Eltern nicht verlangen, dass die Kinder sie besuchen. Für die Beziehung sind beide verantwortlich.

Die Eltern haben sich jahrelang um ihre Kinder gekümmert, vielleicht auf einiges verzichtet. Ist es da nicht verständlich, dass sie erwarten, dass ihre Söhne und Töchter im Alter für sie sorgen?
Sie dürfen danach fragen und ihre Wünsche äussern, damit rechnen können sie nicht. Es geht um ein Absprechen, um einen Austausch und manchmal auch um ein Aushandeln. Wenn erwachsene Söhne und Töchter aus einer kindlichen Rolle heraus glauben, die Erwartungen der Eltern erfüllen zu müssen, finde ich das problematisch. Gute Betreuung gelingt nur, wenn eine emotionale Verbundenheit besteht. Die Kinder müssen das wollen, sonst halten sie das nicht durch.

In der Bibel steht: Du sollst Vater und Mutter ehren.
Vater und Mutter ehren, bedeutet nicht, Vater und Mutter pflegen, bis ich selber erschöpft bin. Ich interpretiere das aus einer psychologischen Perspektive so: Meine Eltern haben mir das Leben geschenkt und sie haben mir, sofern es einigermassen rund gelaufen ist, einiges mitgegeben. Das bedingt Respekt. Das heisst aber nicht, dass die Kinder alles tun müssen. Sie dürfen sagen, was ihnen aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihrer Ressourcen oder ihrer Beziehung zu den Eltern nicht möglich ist.

Und die Eltern? Sollen sie es sagen, wenn ihnen etwas an den Kindern oder deren Partnern nicht gefällt?
Ja, man muss das Gespräch suchen. Viele sprechen nicht aus, was sie stört. Sie machen Andeutungen, das trägt nicht zur Klärung bei. Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern ist die längste, die wir im Leben haben. Sie ist nicht kündbar und sie endet definitiv mit dem Tod. Darum finde ich, dass es gerade in der letzten Lebensphase wichtig ist, die schwierigen Dinge miteinander zu beleuchten. Das heisst nicht, dass man alle alten Geschichten reflektieren muss, aber wenn eine Mutter oder ein Vater merkt, es gibt Sachen an meinem Sohn oder meiner Tochter, die mich stören oder gar verletzen, sollte man sie ansprechen und umgekehrt auch.

Wo ist die Grenze der Ehrlichkeit?
Das Entscheidende ist, dass der Austausch auf Augenhöhe stattfindet. Sobald sich Eltern über ihre erwachsenen Kinder stellen und ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben, oder Kinder ihren alten Eltern erklären, was sie brauchen, bevormunden sie einander. Kinder und Eltern sollten als Erwachsene miteinander kommunizieren.

Das wäre ideal. Viele Eltern haben indes Mühe damit, ihre erwachsenen Kinder loszulassen.
Die Erfahrung aus meiner Praxis zeigt, dass Eltern lernen müssen, ihre Kinder loszulassen, dass aber auch das Umgekehrte gilt. Ich erlebe viele Kinder, die ihren Eltern gegenüber eine überbehütende Haltung einnehmen. Sie erzählen mir, was ihre betagten Eltern benötigen und dass sie es nicht mehr alleine schaffen. In einer Beziehung sollte man auf beide Seiten eingehen. Wenn nur die Eltern sich verändern, bewegt sich in der Beziehung nichts. Beide müssen bereit sein, etwas zu lernen. Es gibt Erziehungskurse für Eltern zu allen möglichen Themen. Über die Eltern-Kind-Beziehung im Alter redet jedoch fast niemand, oder erst dann, wenn sie zum Problem wird.

Welches sind die häufigsten Probleme in der Beziehung von erwachsenen Kindern und ihren Eltern?
Die Frage der Pflege. Solange Eltern und Kinder unabhängig und selbstständig sind, leben beide ihr Leben mehr oder weniger getrennt. Man trifft sich allenfalls an Ostern, Weihnachten, Geburtstagen und zum Muttertag und geht nach zwei, drei Stunden seine eigenen Wege. Die Konflikte sind da, aber sie brechen nicht aus. Wenn die Eltern hilfsbedürftig werden, führt das die ganze Familie enger zusammen und die alten Geschichten kommen hoch. Alte Rollen und Beziehungsmuster werden wieder aktuell: Der Bruder, der stets weiss, was man tun müsste, die Schwester, die alles erledigt. Sie sitzt später bei mir in der Beratung, weil sie nicht mehr mag. Es ist wichtig, dass alle Familienmitglieder sich absprechen und ihre Wünsche, Bedürfnisse und Möglichkeiten einbringen. Wenn mehrere Kinder, ihre Partner und die Eltern beteiligt sind, wird es anspruchsvoll. Eine Moderation kann helfen, dass alle ihren Beitrag leisten.

Wie beeinflussen solche Rollenmuster und Erwartungshaltungen die Beziehung?
Ich erlebe vor allem, wie stark unausgesprochene Erwartungen die Beziehung beeinflussen. Ein klassisches Beispiel: Mutter und Tochter telefonieren regelmässig. Die Mutter redet die ganze Zeit über sich. Die Tochter erwartet, dass die Mutter nach ihr fragt und ist frustriert, wenn das nicht geschieht. Der nächste Anruf läuft nach dem gleichen Muster ab. Die Tochter wird jedes Mal enttäuscht und die Fronten verhärten sich. Besser wäre es, wenn die Tochter der Mutter gleich zu Beginn sagen würde, dass es sie verletzt, wenn die Mutter sich nicht für sie interessiert. Meistens ist die Mutter dann überrascht, weil ihr das gar nicht bewusst war, und sie entschuldigt sich. Eltern sind keine Hellseher. Man darf nicht denken, sie müssten doch merken, was einem fehlt.

Was können Eltern und Kinder für eine gute Beziehung tun?
Ich glaube, dass Familien, die ihre Konflikte im Gespräch miteinander lösen, eine gute Voraussetzung für eine intakte Beziehung mitbringen. Ich finde es wichtig, dass junge Eltern die Beziehung der Geschwister mitprägen, indem sie unter ihnen keine Konkurrenz schüren. Erwachsene Kinder und ihre Eltern sollten einander bis ins hohe Alter zutrauen, dass sie sich verändern können. Der Mensch lernt ständig dazu, bis zum Ende. Man sollte das Gespräch als Heilmittel sehen und offen bleiben. Solange wir reden, so lange bewegt sich etwas.

Interview: Karin Müller

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