Beratung: Haben wir etwas falsch gemacht?
«Wir können uns das schlicht nicht erklären. Wir hatten doch immer ein schönes Familienleben und nie Probleme mit ihr.» In den Kummer mischt sich auch eine Prise Wut. Es empört sie, vom eigenen Kind so ungerecht behandelt zu werden. «Wenn wir bloss wüssten, was wir (angeblich) falsch gemacht haben!»
Herr und Frau A. sind nicht allein. Ich kenne viele solche Geschichten. Sie sind extrem schmerzlich. In den meisten Fällen hat es sich zwar wieder gegeben aber erst nach viel, viel Geduld. Als Erstes rate ich den Eltern, ihrer Tochter in einem ruhig gehaltenen Brief, also ohne vorwurfsvollen Unterton, die Frage nach dem Grund zu stellen. Es könnte ja sein, dass der Weg durch einen bestimmten Vorfall oder Umstand verstellt ist, den sich die Tochter aber nicht anzusprechen getraut. «Haben wir etwas falsch gemacht? Bitte sag es uns. Wir wollen daran arbeiten.» An der Antwort wenn eine kommt werden die Eltern zu beissen haben. Aber das Beissen kann sich lohnen. Man lernt ja nie aus.
Es könnte jedoch auch sein, dass die junge Frau einfach daran ist, sich von den Eltern abzunabeln. Reichlich spät und deshalb wohl so extrem. Ich kann die Eltern nur um Geduld bitten: «Ihr müsst sie laufen lassen. Wenn sie sich gefunden hat, wird sie auch euch wieder finden.» Die Schwierigkeit, sich selbst zu finden und sich seiner selbst gewiss zu werden, ist eben nicht auf die Jahre der Pubertät beschränkt. Ich kannte eine Frau, die Ende Vierzig in eine grosse Lebenskrise geriet und sich neu organisieren musste. In dieser schwierigen Zeit ertrug sie ihre Eltern nicht mehr. Dass die Tochter ihre Eltern definitiv nicht mag, oder dass sie schlicht eine Egoistin ist: diese beiden Erklärungsmöglichkeiten möchte ich dem Ehepaar A. vorläufig noch nicht zumuten obwohl beides natürlich auch vorkommt. Vielleicht lebt die junge Frau im Moment einfach in einer ganz anderen Welt, in der die Eltern aus diversen Gründen keinen Platz haben. Das kann sich mit der Zeit ändern. Deshalb rate ich den Eltern, sich auf eine lange Durststrecke einzustellen und für ihre Tochter einfach eine Tür in ihrem Herzen offen zu halten.
Was sie darüber hinaus tun können, ist beten. Mit beten meine ich nicht, Gott mit Handlungsanweisungen zu bestürmen. Ich empfehle vielmehr, die Tochter und sich selbst ganz bewusst in Gottes Hand zu legen und ihm den Ausgang der Geschichte zu überlassen. Er allein weiss, was in den Herzen der Menschen vorgeht.
Margrit Balscheit
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