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Kommunikation des Evangeliums Mission Impossible?

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01.01.2016
Wer kann heute noch schnell und präzis erklären, was das Evangelium bedeutet? Braucht es dazu die Bibel? Wir haben eine Journalistin, eine Pfarrerin und zwei Pfarrer an einen Tisch gesetzt und darüber diskutieren lassen.

Mit dabei sind:
Deborah Sutter (31). Sie ist Redaktorin Religion bei Radio SRF 2, hat in Zürich Theologie studiert und als Reporterin bei «20 Minuten» gearbeitet.

Sibylle Forrer (35) ist Pfarrerin in Kilchberg, Kanton Zürich. Sie hat in Zürich und Berlin Theologie studiert und ist Sprecherin beim «Wort zum Sonntag» auf SRF 1.

Samuel Hug (33) ist Pfarrer in Wattenwil, Kanton Bern. Als «Heavy Metal-Pfarrer» organisiert er Konzerte und predigt dort auch. Der «Hirte der schwarzen Schafe» hat in Bern Theologie studiert.

Patrick Schwarzenbach (31) ist Pfarrer im Offenen Jakob in Zürich. Er hat in Zürich Theologie studiert, 2012 als Eremit in einem Wald gelebt sowie 2014 unter Randständigen in Bern.


Was ist unter dem Evangelium zu verstehen?
Patrick Schwarzenbach: Für mich ist es ein Hineinragen des Göttlichen und Ewigen in den Alltag. Und zwar nicht in einer Siegerpose, sondern es ragt auch dann hinein, wenn es einem schlecht geht. Das ist das Evangelium: das schöne Scheitern.

Sibylle Forrer: Würde man den Menschen auf der Strasse diese Frage stellen, würden sie wohl zuerst antworten: «Das Evangelium? Ja, das ist in der Bibel.» Eventuell wüssten sie noch, dass es vier davon gibt. Und auch wir hier am Tisch verstehen unter Evangelium wohl nicht dasselbe da wird es bereits zur Mission Impossible, um die ursprüngliche Frage dieser Diskussionsrunde aufzugreifen. Das Evangelium, da stimme ich Patrick zu, ist ein Angebot, das hilft, dass Beziehungen gelingen können. Beziehungen untereinander, zu sich selbst, zu Gott.

Samuel Hug: Das Evangelium ist die Geschichte von Gott mit uns Menschen, so wie sie im Alten und im Neuen Testament bezeugt wird, aber noch nicht fertig ist. Vieles ist noch verheissen, wir stehen mittendrin.

Deborah, du bist Theologin und Journalistin, aber keine Pfarrerin. Was fällt dir zum Evangelium ein?
Deborah Sutter: Für «normale» Menschen ist das Evangelium eine Worthülse. Es sind schöne Worte, aber sie sind leer.

Sibylle: Da wären wir wieder bei der Mission Impossible. Ein grosses Problem ist, dass wir über das Evangelium in einer Insidersprache reden.

Patrick: Das Problem ist auch, dass wir überhaupt mit der Sprache versuchen, darüber zu kommunizieren. Wir nutzen jene Formen von Kommunikation zu wenig, die uns auch zur Verfügung stehen und die in der Bibel angelegt sind.

Welche Formen?
Patrick: Zum Beispiel die Nächstenliebe. Oder Fasten, Meditieren oder in die Stille gehen. Alles Formen, die ohne «Geschwafel» auskommen.

Darin bist du Spezialist. Du gingst in den Wald, um zu schweigen, und in Bern zu den Randständigen.
Patrick: Ich bin nicht sicher, ob ich Spezialist bin. Denn es gehört hoffentlich zum Pfarrberuf oder zum Theologiestudium, dass man einen Weg mit sich selber macht, so dass es nicht nur eine Kopfsache ist. Ich habe probiert, Dinge zu tun, von denen ich dachte, dass junge Erwachsene Freude daran hätten Sachen, die nicht nur auf der Sprachebene stattfinden.

Wenn die sprachliche Verkündigung nicht mehr so wichtig ist, trifft es dann die Reformierten nicht besonders?
Samuel: Am klassischen Selbstverständnis eines reformierten Gottesdienstes rüttelt es gewaltig. Die zentrale Frage ist: Wo müssen wir am sperrigen Wort festhalten und wo uns auf neue Formen einlassen?

Sibylle: Reformiertes Pfarramt ist die Verkündigung des Evangeliums. Aber das ist nicht nur Gottesdienst am Sonntagmorgen, sondern viel mehr.

Patrick: Das Wort ist enorm wichtig. Aber mir ist lieber, wenn es kurz und gut gewählt ist. Darum kann ein Sonntagmorgengottesdienst einen viel kürzeren Wortanteil haben. Fünf Minuten Wort, die sitzen und treffen, schlagen eine 20-Minuten-Predigt.

Ist das noch reformiert?
Patrick: Natürlich! Dass die Reformierten das Wort, den Logos, mit Predigt gleichsetzen oder mit jemandem, der auf der Kanzel steht, müsste nicht sein. Es kann auch sehr reformiert sein, dies anders zu übersetzen.

Sibylle: Das Evangelium geschieht in der Begegnung und davon zeugt die Bibel. Da sind ganz viele Begegnungsgeschichten. Die Bibel ist keine philosophisch-theologische Abhandlung. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament geht es um Geschichten und Begegnungen. Musik ist übrigens auch Verkündigung des Evangeliums.

Samuel: Das Evangelium ist nicht nur Sprache. Es ist auch das Bild, die Inszenierung, die Tat. Und hoffentlich auch, dass Gott selbst eingreift und sich zeigt. Nicht dass wir nur reden, sondern dass sich Gott selbst ins Spiel bringt.

Kürzlich hattest du, Samuel, einen Metalchurch-Event in deiner Kirche im Berner Wattenwil. Ist das auch eine Form von Kommunikation des Evangeliums?
Samuel: Ja, durchaus. Wir haben in der Kirche zwei Metal-Konzerte durchgeführt. Es ist auf der Gefühlsebene viel passiert, auch bei Leuten, die mit Metal nichts am Hut haben. Sie merkten, dass die Kirche nicht nur das ist, was sie sich vorstellten. Aber es war nichts Explizites in diesem Rahmen. Dieser eine Metalchurch-Anlass war zwar «nur» ein Konzert, aber weil es in der Kirche war und die Bands einen Bezug zum Glauben hatten, kam man ins Gespräch.

Deborah: Ihr drei spürt, was ihr verkündigt. Doch das an die Leute zu bringen, ist nicht einfach. Ich frage mich oft: Warum sollen die Kirchgängerinnen und Kirchgänger selber diese Übersetzung leisten? Pfarrerinnen und Pfarrer sprechen in Begriffen, die wir zwar sieben Jahre studiert haben, von denen die Mehrheit aber keine Ahnung hat

Sibylle: Wenn die Pfarrperson diese Übersetzung in ihrer Predigt nicht leistet, ist sie nicht gelungen.

Deborah: Aber wie oft wird einem nur schon der Begriff «Sohn Gottes» um die Ohren geschlagen? Wer weiss, was damit gemeint ist? Und wieso erwartet man, dass das die Leute selbst gedanklich leisten?

Sibylle: Das ist aber schon innerhalb der Bibel so: Paulus hatte die ganz schwierige Aufgabe, den Tod von Jesus zu deuten, dieses grosse Scheitern. Er wusste, was für Adressaten er hatte. Spricht er nun mit Judenchristen oder spricht er mit Hellenisten? Er benutzt jeweils eine andere Sprache. Das ist auch unsere Aufgabe. Du sprichst in einem Jugendgottesdienst nicht gleich wie in einer Seniorenandacht.

Sibylle, was machst du, dass du im «Wort zum Sonntag» nicht in einen kirchlichen Jargon fällst?
Sibylle: Ich muss übersetzen. Wir haben unsere Schlagwörter wie Gnade oder Demut was heissen sie? Das ist die Herausforderung nicht nur im «Wort zum Sonntag». Dort ist es vielleicht extremer, weil das Zuschauerspektrum breiter ist. Aber ich bemühe mich auch im Sonntagsgottesdienst, keine «Insidersprache» zu gebrauchen.

Patrick: Wir fangen an zu studieren, kommen eventuell bereits aus einer kirchlichen Sozialisierung, waren im Cevi und haben immer verstanden, was diese Wörter heissen. Und dann kommst du in eine Gemeinde und bist wieder in dieser gleichen «Blatere» von Leuten, die wissen, was diese Wörter bedeuten. Wie sollst du da jemals rauskommen?

Sibylle: Ich habe keine kirchliche Sozialisierung. Im Studium sind mir all diese Begriffe um die Ohren geschlagen worden. Ich musste für mich herausfinden: Okay, was heisst das jetzt? Nicht, dass jemand, der ganz stark kirchlich sozialisiert ist, das nicht auch macht. Aber bei mir war das wirklich speziell. Ich hatte keine Ahnung, wer den Römerbrief geschrieben hat und mich entsprechend blamiert an einer Griechischprüfung.

Ein Römer oder?
Sibylle: Ja, das wäre für mich logisch gewesen (lacht).

Samuel: Ich bin das Gegenbeispiel von dir, Sibylle. Ich bin total kirchlich aufgewachsen. Ich will das Theologiestudium überhaupt nicht «bashen», aber das Übersetzen lernt man nicht an der Uni. Wir sind Uni-Abgänger, im Kopf ziemlich fit, aber das ist nicht unbedingt die Lebenswelt der Leute.

Patrick: Ich bin nicht unglücklich, dass wir das an der Uni nicht hatten. Man müsste das Übersetzen eher im Vikariat lernen.

Deborah: Die Sprache jedenfalls alleine reicht nicht. Es muss eine Erfahrungsdimension dazukommen. Ich bin mit der Sonntagsschule aufgewachsen, aber ich habe auch nach dem Studium keine Idee gehabt, was mit all dem «Züügs» gemeint ist. Intellektuell natürlich schon, ich konnte grossartige Reden darüber halten, aber ich hatte keine Ahnung, was es tatsächlich heisst. Eigentlich müsste mir die Kirche einen Weg zu diesem «Verstehenkönnen» zeigen. Das wäre ihre Aufgabe. Aber sie versagt kläglich.

Samuel: Aber kann die Kommunikation nicht erst gelingen, wenn ich selbst davon betroffen bin? Wenn das Göttliche zu mir spricht? Das ist die Grundvoraussetzung. Das weckt Glauben.

Was genau spricht dich an?
Samuel: Wenn ich mich mit Bibeltexten auseinandersetze und merke, dass ich Gott nahe komme und er mich herausfordert.

Aber wenn jetzt jemand Gott nicht anspricht? Wie muss man dann das Evangelium verklickern?
Samuel: Dann wäre es zumindest schwierig, Pfarrer zu sein.
Patrick: Nein, das glaube ich nicht. Eine suchende Bewegung muss Platz haben im Pfarrberuf, bei der man sich ausstreckt nach etwas und offen ist.

Samuel: Ich hatte viele Studienkollegen, die von sich aus wohl nicht gesagt hätten, dass sie gläubig sind. Aber eine existenzielle Betroffenheit und der Wunsch nach Auseinandersetzung waren da.

Sibylle: Viele Leute haben zu Recht das Gefühl, die Kirche erhebe einen Wahrheitsanspruch. Gewachsen aus einer jahrtausendalten Tradition, sie wisse schon, was wahr ist. Davon müssen wir uns komplett befreien. Wir alle sind auf der Suche und können die Wahrheit nicht besitzen, uns nur immer wieder von ihr erfassen lassen. So müssen wir auch auftreten.

Patrick: Aber nur schon wenn du an einem Sonntagmorgen oder auch am Fernsehen vorne stehst, musst du sagen, was denn nun richtig oder falsch ist.

Sibylle: Nein, ich würde es so absolut nicht sagen. Es soll auch immer eine Diskussion eröffnen. Ich würde nie von mir in Anspruch nehmen, dass ich weiss, was wahr ist. Das weiss niemand. Und die Kirche steht noch immer unter Generalverdacht, dass sie halt wisse, was wahr ist. Übrigens: Wenn man die Leute auf der Strasse fragt, was Kirche ist, dann kommen meistens Bilder von der katholischen Kirche und nicht von der reformierten. Das ist auch ein Problem unserer Profillosigkeit.

Samuel: Da muss ich die Katholiken ein wenig in Schutz nehmen. Im Bernbiet ist die katholische Kirche sehr klein, und es ist bei uns nicht anders. Die Reformierten sind diesbezüglich viel katholischer als sie manchmal tun. Bei den Reformierten war lange Zeit der Pfarrer der Papst.

Deborah: Du, Samuel, sagst, dass du in der Bibel liest und dabei etwas erlebst. Aber so ergeht es nur einem kleinen Teil der Leute. Und für sie fehlt das Angebot in der Kirche, das den Raum offen für neue Erfahrungen hält vielleicht auf eine andere Art, als in der Kirchenbank zu sitzen.

So wie Patrick, der im Wald lebte und jetzt in einer Citykirche arbeitet?
Deborah: Ja, mehr solche Sachen.

Sibylle: Aber Kirche ist doch bereits im Gemeindekontext viel mehr als der Gottesdienst am Sonntagmorgen. Das ist auch so ein Klischee. Kirche passiert an verschiedenen Orten. Wenn man den Jugendlichen Raum schafft für die Begegnung untereinander, dann kann auch die Begegnung mit Gott passieren. Dafür sind sie sehr empfänglich.

Aber das hat man auch in der offenen Jugendarbeit. Das muss nicht zwingend nur im kirchlichen Kontext stattfinden.
Sibylle: Richtig. Aber dort ist es ein Raum mehr, der geöffnet wird. Plötzlich kommen Fragen, die einer Jugendarbeiterin nicht gestellt würden.

Patrick: Das kann aber auch sehr negative Folgen haben. Die Kirche löst oft etwas enorm Beklemmendes aus.

Sibylle: Du bist natürlich immer Projektionsfläche, je nach dem, was jemand für einen Rucksack hat. Aber es löst etwas aus.

Patrick: Aber das passiert auch, wenn ein Kaminfeger in den Raum kommt.

Deborah: Man muss die Leute alleine die Erfahrungen mit Gott machen lassen oder wie man dem auch immer sagen will. Man muss ihnen ein Setting geben und Techniken zeigen, wie eine solche Erfahrung vielleicht möglich wird.

Sibylle: Natürlich muss jeder Mensch seine Erfahrung mit Gott selbst machen. Das hat etwas mit mündigem Glauben zu tun. In unserer Gesellschaft sind diese Räume aber unglaublich klein geworden. Ich möchte mal an einen Apéro gehen, in einem völlig unkirchlichen Setting, und sagen: Hallo, ich bin Sibylle, ich bin Christin! Du kannst über alles reden, aber nicht über den Glauben. Wenn du so kommst, stehst du beim Apéro ziemlich rasch alleine da.

Patrick: Und trotzdem: Wenn du mit einem religiösen Touch sprichst, dann kann es positiv wirken. Eine Reise in die Stille oder eine Pilgerreise fasziniert auch den unkirchlichsten Banker.
Sibylle: Aber führt es dazu, dass der Banker darüber spricht, was er glaubt? Oder sagt er dann einfach: Ah cool, Stille, das hab ich auch mal gemacht.

Patrick: So eine Aussage ist bereits spannend. Daraus kann ein Gespräch entstehen. Ich will vom Banker nicht hören: «Ja, ich glaube auch», oder «Glaube ist spannend». Das wäre wohl eine Sprache, die er nicht spricht.

Deborah, wen von den drei Pfarrern hier am Tisch würdest du für eine Sendung einladen?

(Stille)

Lesen Sie am Freitag, 18. September, den zweiten Teil des Gesprächs.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch.


Zum Bild: Patrick Schwarzenbach, Sibylle Forrer, Samuel Hug und Deborah Sutter (von links).
Niklaus Spörri/ref.ch

Gesprächsmoderation: Matthias Böhni / ref.ch / 11. September 2015

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