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Stimme der tunesischen Revolution

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01.01.2016
Lina Ben Mhennis Blog war während der tunesischen Revolution eine der wichtigsten freien Informationsquellen. Für «Arbeit, Freiheit und Würde», die Ziele der Demonstranten, kämpft die Aktivistin auch heute. Am letzten Freitag weilte sie an der Brot-für-alle-Tagung «Hunger, Wut & Wandel» in Bern.

Lina Ben Mhennis Blog heisst «A Tunisian Girl», ein tunesisches Mädchen. Doch der harmlose Name täuscht. Die 32-Jährige ist eine politische Aktivistin. Sie setzt sich seit Jahren für Redefreiheit und Menschenrechte ein. Ihre Stimme hat Gewicht. Als sie den Blog 2007 ins Leben rief, sei sie noch jung gewesen, lacht sie und meint: «Heute hätte ich schon Lust, den Namen zu ändern.» Aber das sei schwierig, weil sich der Blog unter diesem Namen etabliert habe.

Zwischen Dezember 2010 und Januar 2011 berichtete Ben Mhenni hautnah über die Ereignisse der tunesischen Revolution. Unter Lebensgefahr dokumentierte sie an den Brennpunkten des Aufstands mit der Kamera Polizeieinsätze, publizierte Opferlisten und sprach mit Betroffenen. Über das Internet unterhielt sie Kontakte zu ausländischen Journalisten. Ihr Blog wurde zu einer der wichtigsten freien Informationsquellen und zum Aushängeschild der Opposition.

Für die Aktivistin war es selbstverständlich, unter ihrem Namen aufzutreten: «Wie kann ich das Vertrauen der Menschen erlangen, wenn ich mich hinter einem Pseudonym verstecke? Wenn ich die Menschen zu Demonstrationen aufrufe, muss ich mit ihnen auf die Strasse gehen. Zudem hätte mich ein Pseudonym nicht vor der Verfolgung der Behörden geschützt.»

Zensiert und verboten
Die Regierung unter Diktator Zine el-Abidine Ben Ali versuchte, Ben Mhenni mit allen Mitteln zum Schweigen zu bringen. Ihr Blog wurde zensiert und verboten. Heute werde sie von neuem von den Medien ausgeschlossen und könne nichts veröffentlichen: «Aber ich bin sehr präsent in den sozialen Medien.» Sie lässt sich nicht entmutigen. Das habe sie wohl von ihren Eltern geerbt, sagt sie. Die kritische Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime liegt in Ben Mhennis Familie. Ihr Vater sass als Oppositioneller in den Siebzigerjahren im Gefängnis.

Eine schwierige Lebensphase hat sie besonders geprägt und ihren Willen gestärkt. Lina Ben Mhenni erhielt 2007 eine neue Niere. Sie verbrachte viel Zeit im Krankenhaus. Gleichzeitig bereitete sie sich auf ihren Masterabschluss an der Universität vor. Die Versorgung der Patienten in tunesischen Krankenhäusern grenze bisweilen an Misshandlung: «Ich wehrte mich, um zu überleben.» Sie wurde gesund und bestand ihre Prüfungen mit Bestnoten. «Ich habe erfahren, wie viel Kraft in mir steckt, wenn ich mich darauf konzentriere, die Dinge zu ändern.»

Mit ihrer Familie reiste Ben Mhenni viel in Tunesien herum. «Ich traf Menschen, die hungerten, ohne fliessendes Wasser und Elektrizität lebten und zu arm waren, um ihre Kinder zur Schule zu schicken. Da wusste ich, dass etwas grundfalsch lief in diesem Land», erzählt sie. Ihr politisches Engagement begann 2008. Sie setzte sich für die Rechte der Menschen im Zentrum Tunesiens ein, die unter sozialer Ungerechtigkeit und der Umweltzerstörung durch den Phosphat-Abbau litten. «Die Blogger berichteten als Einzige über den Aufstand, der dort stattfand.» Sie seien eingesprungen, wo die Medien versagten.

Geduld und Beharrlichkeit

Vier Jahre nach der Revolution ist für die Tunesierin der Kampf in ihrer Heimat noch lange nicht beendet. Die Redefreiheit sei bereits wieder bedroht. Von der amtierenden Regierung erwartet Ben Mhenni keine Veränderungen. Sie habe die Ziele der Revolution verraten: «Das ist inakzeptabel. Ich träume von einem Tunesien, in dem alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind und ihre Freiheitsrechte geniessen können.» Ben Mhenni will weiter Druck machen: «Ich werde wachsam sein, weiterschreiben und demonstrieren. Es braucht Geduld. Wir müssen beharrlich sein und viel ertragen.»

Zu den alten Problemen ist ein neues dazugekommen: der islamistische Terror. Die meisten Tunesier seien gemässigte Muslime, erklärt Lina Ben Mhenni. Jeder solle seine Religion leben dürfen, betont sie. Das gehöre zu den Menschenrechten. Religion sei jedoch kein Thema der Revolution. «Unser Hauptanliegen ist die Entwicklung des Landes: Emploi! Liberté! Dignité! (Arbeit! Freiheit! Würde!)» Diese Ziele seien gefährdet, wenn die Touristen aus Angst vor Anschlägen ausblieben und damit einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes zerstört sei.

Ben Mhenni beklagt, dass viele junge Tunesier die Hoffnung auf ein besseres Leben verloren hätten und auswanderten. Sie selber will Tunesien nicht verlassen. Seit mehr als vier Jahren hat sie keine Ferien gemacht. Meist befindet sie sich auf Reisen, um Vorträge zu halten wie in Bern. Nach dem Besuch in der Schweiz fliegt sie für zwei Tage zurück in die Heimat, wo sie direkt vom Flughafen aus an eine Demonstration fährt. Woher nimmt sie diese Energie? «Ich tue das für mein Land, ich mache das gerne und finde immer Energie dafür.»


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: Bloggerin Lina Ben Mhenni: «Ich träume von einem Tunesien, in dem alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind und ihre Freiheitsrechte geniessen können.»

Karin Müller / Interkantonaler Kirchenbote / 15. September 2015

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