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«Wir haben das Sterben nicht im Griff»

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01.01.2016
Wie stirbt man «gut?» Pfarrerin Anne-Marie Müller zeigt Wege dazu auf. Am Eröffnungstag der Ausstellung «Lebenskunst & Totentanz» im Kloster Kappel spricht sie zu diesem Thema.

Sie referieren am 20. September im Kloster Kappel über das Thema «Wie kann gutes Sterben aussehen». Wie stirbt man «gut»?
Anne-Marie Müller: Im Alten Testament heisst es von einigen Menschen, sie seien «alt und lebenssatt» gestorben. Das finde ich schön. Die meisten Menschen wünschen sich, keine Schmerzen zu haben und nicht allein zu sein. Selbstbestimmung spielt eine grosse Rolle nicht Behandlungen aufgezwungen bekommen, die Zeit so gestalten, wie man kann und will.

Und wie stirbt man «schlecht»?

Der Begründer der religiös-sozialen Bewegung, Christoph Blumhardt, hat gesagt, Christen müssten «Protestleute gegen den Tod» sein und hat damit den gewaltsamen Tod gemeint, den zu frühen, ungerechten. Dem kann ich mich anschliessen: Es ist schlecht, wenn ein Kind stirbt auf der Flucht aus Syrien. Es ist schlecht, wenn Menschen im Krieg umkommen oder im Verkehr. Oder früh an einer Krankheit sterben. Und es ist schlecht, wenn ein zwölfjähriges Kind aus der Schule wegläuft und unter den Zug geht.
Natürlich finde ich auch jedes Leiden schlecht. Es ist schwer mit anzusehen, wenn jemand um Atem ringt, Schmerzen hat, sich in Angst windet.

Welche Sterbekultur prägt die heutige Zeit?
Der Tod wird heute in der Gesellschaft weitgehend verdrängt und verbannt. Ist dadurch das Sterben schwieriger geworden? Im Wesentlichen verbannen wir den Tod wohl, weil wir es können, weil bei uns nicht auf der Strasse gestorben wird, weil Kranke ins Spital aufgenommen werden oder in einem Pflegeheim leben. Das ist ja auch wirklich ein Fortschritt, nicht böser Wille. Und in diesem Sinn stirbt es sich vielleicht «besser» in guter Obhut. Aber ja: Es ist jetzt manchmal, als ob man nicht mehr sterben dürfe. Man hat seit Mitte letztes Jahrhundert aber viel dazu gelernt. Da wucherte der Fortschrittsglaube in der Medizin bis zu schrecklichen Eingriffen in buchstäblich letzter Minute, jeder Tod war ein Versagen. Das ist heute nicht mehr so. Heute nehme ich eher einen Anspruch wahr: Es muss «schön» gestorben sein, versöhnt, entspannt, möglichst rasch, wenn es denn schon sein muss.

Sie waren als Seelsorgerin am Pflegezentrum Dielsdorf tätig. Wie starben die Menschen dort?
Unterschiedlich. Jeder Sterbeprozess ist ganz individuell, das finde ich wichtig, und das muss unbedingt respektiert werden. Im Ganzen taten Ärzte und Pflegepersonal aber wirklich viel, um Leiden und Angst zu mindern. Gute Pflege ist enorm wichtig, gerade wenn «man nichts mehr tun kann», auch bequeme Lagerung, gute Mundpflege, das Erfüllen der Wünsche, die man noch eruieren kann wie bestimmte Getränke oder Besuche. Und auch Seelsorge und Musik sind wichtige Elemente.

Sterben ohne Leiden und Angst so möchten wir alle sterben.
Sterben ist so unterschiedlich wie Geborenwerden. Wir können nur beschränkt Einfluss nehmen. Menschen sterben zum Beispiel plötzlich einfach weg, und wir erschrecken, obwohl wir es der Person gönnen, so leidfrei gestorben zu sein. Andere brauchen so lange wir wissen nicht warum. Sie leben Tage, manchmal Wochen, atmen, essen und trinken nicht mehr, werden immer schwächer, aber das Herz schlägt weiter. Das ist schwer auszuhalten. Manchmal scheint es auch, als ob jemand sein Sterben wirklich selber beeinflusse - wenn er wartet auf eine bestimmte Person etwa, oder darauf, dass grad mal niemand im Zimmer ist. Ich habe auch erlebt, dass Sterbende ihren Familien Zeit zu geben scheinen für wichtige Fragen und Prozesse.
Wir haben das Sterben nicht im Griff. Es ist ein geheimnisvoller Prozess. Ich will nicht beurteilen, was daran «richtig», gut oder eben schlecht ist.

Was kann die Umgebung dazu beitragen, damit Menschen angstfrei sterben können?
Angst ist etwas Schwieriges. Natürlich sollen wir die Angst ernst nehmen, im Gespräch wenn eines möglich ist darauf eingehen. Aber uns nicht mitreissen lassen. Wir sollten uns besinnen auf unser eigenes Vertrauen und der Sterbenden vielleicht davon erzählen aber nicht das Gespräch ihr aufzwingen! Wir können das eigene Vertrauen zur Verfügung stellen als Pfahl in der Brandung zum Festhalten.
Und: Es gibt Medikamente, aber die sollten nicht dazu dienen, die Angst einfach lahmzulegen. Es gibt ja Gründe für die Angst weil das, was kommt, so unbekannt und unberechenbar ist zum Beispiel.

Zunehmend mehr Menschen möchten selbstbestimmt sterben, assistiert von Sterbehilfeorganisationen.
Ich glaube, dass es einen Grund gibt dafür, dass wir keinen Knopf zum Abstellen haben, ich will glauben, dass auch unser Sterben wie auch immer es ist Sinn machen kann. Aber es gibt wohl Situationen, in denen das Selber-Bestimmen die einzige Lösung zu sein scheint.

Hilft Glauben, ruhiger zu sterben?
Ja. Wenn es ein Glaube an einen wohlwollenden Gott ist, der uns entgegenkommt, der unser Leiden teilt, der uns Geborgenheit schenkt.

Welche Rolle kann - soll - die Kirche beim Sterben der Menschen spielen?
Begleitung anbieten, da sein in Angst, Gesprächspartnerin sein bezüglich der Fragen über Gott und die Welt und das Leben. Vertrauen anbieten. Den Weg des Sterbenden gutheissen.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Anne-Marie Müller
ist Pfarrerin in Zürich-Höngg und arbeitete mehrere Jahre als Seelsorgerin im Pflegezentrum Dielsdorf.


Der Tod im Kloster Kappel
Vom Tod wird keiner verschont. Bilder von Skeletten, die, wann immer sie wollen, plötzlich Menschen jeglichen Alters und Gattung vom Leben in den Tod holen, lösen noch heute Schauer aus, obwohl sie in früheren Jahrhunderten entstanden sind. Die Ausstellung «Lebenskunst & Totentanz» zeigt vom 20. September bis 22.November 2015 im Kloster Kappel Darstellungen von Totentänzen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen. Im Begleitprogramm wird die Thematik vertieft.


Zum Bild: Totentanz-Darstellung aus dem Mittelalter

Interview: Stefan Schneiter / reformiert.info / 17. September 2015

Links:
Programm «Lebenskunst & Totentanz»

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