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«Es kann uns nicht egal sein, was einem Christ in Nigeria zustösst»

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01.01.2016
200 Jahre Basler Mission: Mission 21-Direktorin Claudia Bandixen erklärt, wie die Mission den Christen in Nigeria gegen den Terror von Boko Haram hilft und warum es gut sein kann, eine traditionelle Gesellschaft aufzubrechen.

Frau Bandixen, in Basel hält ein Symposium zum 200-Jahre-Jubiläum der Basler Mission Rückschau. Viele denken bei der Geschichte der Mission an Unterdrückung und Vereinnahmung. Zu Recht?
Claudia Bandixen: Die Mission brach auf als Wiedergutmachungsbewegung gegen die Sklaverei und zur Verbreitung des Evangeliums. Die Grundlage des Evangeliums ist die Gleichwertigkeit aller Menschen. Für die Mission war es nicht tolerierbar, dass so genannte Christen die Sklavenhaltung zuliessen oder sogar Geschäfte damit machten. Die Aufgabe der Mission war und ist es, im Auftrag des Evangeliums zu handeln. Mission soll befreien. So setzten sich die Missionare für die Befreiung der Sklaven ein durch Freikaufen oder Verhandlungen. In den 200 Jahren hat die Mission lediglich 4000 Missionare in rund 30 Länder geschickt. Wie sollten sie da Macht ausüben? Diese Einzelnen waren darum wirksam, weil Einheimische die Botschaft begeistert aufnahmen. Es waren einheimische Bibelfrauen, Pfarrer, Lehrer und Evangelisten, welche die jungen Kirchen zu Millionenkirchen wandelten.

Die Mission sagt, alle Menschen sind gleich und sollen die gleichen Rechte haben. Exportieren Sie damit nicht westliches Denken, das die traditionellen Gesellschaften und ihre Religionen zerstört?

Was wollen Sie denn schützen? Menschenverachtende Auswüchse zum Beispiel des Kastensystems in Indien? Ist es richtig, wenn Mädchen im ersten Lebensmonat ertränkt werden, weil sie teure Brautgaben brauchen und sowieso besser als Mann wiedergeborgen werden sollten? Missionare retteten die Babys, überzeugten die Mütter, so etwas nicht mehr zu tun und eröffneten Kinderheime. Natürlich bringt das die Gesellschaft durcheinander, wenn man Menschen aus ihren Systemen herausnimmt. Das wird nicht gern gesehen. Aber muss es «Untermenschen» geben, damit eine Gesellschaft funktioniert? Ich behaupte, dass es kulturelle Auswüchse gibt, die wir nicht akzeptieren sollten. Als die Kopfjäger Christen wurden, waren traditionelle Eltern nicht glücklich darüber. Wie sollten sie nun sicher sein, dass ein Bewerber ihre Tochter beschützen konnte? Aber Köpfe als Brautgabe? Ich finde es richtig, dass es das nicht mehr gibt.

Einverstanden, doch damit zerstört die Mission die kulturellen Grundlagen einer Gesellschaft.
Die Kulturen werden nicht ausgelöscht. Man kann dies am Beispiel der Kunst sehen. Die Künstler eignen sich das Christentum an, so dass es Teil ihrer Kultur wird. Sie finden ihren eigenen Zugang zum Religiösen. Ein indisches Bild zeigt die Geburt von Jesus, dargestellt mit den Symbolen der indischen Kultur. Die Inkulturation geschah auch in Europa. Das Christentum kam ja aus dem Orient und war uns fremd.

Wo war die Mission erfolgreich, wo hat sie versagt?
Wo Christinnen und Christen sind und man einander trotzdem hasst und Krieg führt, hat das Christentum weltweit versagt. Ich darf jedoch behaupten, dass es den Menschen in den Ländern, in denen unsere Mission etwas aufgebaut hat, darum etwas besser geht. Die pietistische Grundhaltung hat dort positive Früchte getragen. Sie besagt, dass ich nichts besitze, sondern den Besitz nur im Dienste Gottes verwalte und ihn einsetze zum Wohle aller, damit ein besseres Leben möglich ist. Wenn Sie jemandem Ihre Werte verständlich machen wollen, können Sie ihm nicht mit Verachtung begegnen. Die Missionare wertschätzten ihr Gegenüber. Sie wollten die Einheimischen kennen lernen, ihre Sprache verstehen und wissen, wie sie dachten. Nur so konnte der Austausch entstehen, der zur Konversion führte, nicht durch Zwang. Die Missionare verachteten die Einheimischen nicht, weder die Frauen, die aus Armut ihre Töchter prostituierten, noch die Kopfjäger. Die Missionare von damals und heute versuchen zu verstehen, warum Menschen etwas tun und sie haben in den Menschen die Hoffnung geweckt, dass es Wege aus dem Unterdrücktsein, aus der Armut und der Marginalisierung heraus gibt.

Sklavenhandel gibt es noch heute, zum Beispiel in Nigeria, wo die islamistische Terrorgruppe Boko Haram christliche Mädchen und Frauen entführt. Sie waren im Dezember dort. Was kann die Mission dagegen tun?

Die Frauen werden entführt und gezwungen, zum Islam zu konvertieren, oder sie werden versklavt oder sogar getötet. Falls sie entkommen, werden sie oft von ihren Familien verstossen, weil sie, vom Feind geschwängert und vergewaltigt, eine Schande darstellen. Viele dieser Frauen haben zudem Angst, den Schleier wieder abzulegen und offen als Christinnen zu leben. Wir wollen verhindern, dass die Frauen erst Opfer ihrer Entführer und dann ihrer eigenen Leute werden. Wir helfen den Betroffenen bei der Trauma-Bewältigung. In einer bedrohten Gemeinschaft brauchen die Menschen Lebensmöglichkeiten, Ermutigung zur Freiheit und Vertrauen. In unsere Projekte beziehen wir die Muslime, die sich Frieden wünschen, mit ein. Parallelgesellschaften wären eine Gefahr. Sie sind immer davon bedroht, auseinanderzubrechen. Ein Zusammenleben der verschiedenen Religionen und Ethnien muss möglich sein. Fast absurderweise, könnte man sagen, setzt sich die Mission wirklich für Religionsfreiheit ein.

Sie sagen selber, das sei absurd?

Es tönt absurd, ist es aber nicht. Christen sind in fast allen Ländern der Welt in der Minderheit. Sie sind oft bedroht, ihre Rechte beschränkt. Nur wo Religionsfreiheit herrscht, können sie sich uneingeschränkt in der Öffentlichkeit bewegen und sich entwickeln. Dass wir, selbst wenn wir in der Situation der Mehrheit sind, andere Menschen nicht verachten oder unterdrücken sollen, lehrt uns das Evangelium.

Mission 21 hat in Nigeria auch Nothilfe geleistet. Was unterscheidet die Mission von der Entwicklungshilfe?

Wir sind keine Nothilfeorganisation. Wir können nicht von einem Tag auf den anderen Riesensummen geben. Wir sind auf Aufbau, Nachhaltigkeit und Prävention spezialisiert. In unseren Projekten arbeiten wir partnerschaftlich. Sie basieren auf gegenseitiger Achtung. Wir sprechen von Lerngemeinschaft. Wir geben nicht nur Wissen und Hilfe weiter, aus der Perspektive unserer Partner erfahren wir viel über uns, das uns weiterhilft. Dieses Voneinander-Lernen ist auch ein wichtiges Ziel des Symposiums.

Zum Beispiel?
Unsere Partner in den Ländern des Südens können zum Beispiel nicht verstehen, warum wir Europäer das Religiöse als nebensächlich bezeichnen. Sie lehren uns, dass Religion zum Leben gehört. Sie meinen, wir sollten uns nicht dafür entschuldigen, dass wir Christen sind. Wir müssen Verantwortung übernehmen für unser Christsein und uns daran freuen. Sie machen es uns vor.

Können die Kirchen in der Schweiz von der Mission lernen?
Mission macht Christsein dort verständlich, wo das Fremde beginnt: die andere Religion, die unbekannte Kultur, andere Werte. Mission hilft Kirchen im Umgang mit Grenzen und Fremdem. Eine Situation an der Grenze zu anderem wird auch hier mehr und mehr zur Norm. Mission bringt Erfahrungen ein, von denen wir lernen können. Nehmen wir den Gottesdienst. Beim Gottesdienstbesuch in Nigeria wusste niemand, ob nicht einer der 5000 Gottesdienstbesucher ein Selbstmordattentäter ist. Jeder war sich bewusst, dass er vielleicht nicht mehr lebend aus der Kirche kommen würde. Trotz dieser Gefahr lassen sich die Menschen den Gottesdienst nicht verbieten. Die Predigten dort sind kein bisschen spannender. Aber die Menschen entdecken darin Befreiung, Ermutigung und Freude. Für unsere Partner ist das Pfarramt ein Dienst aus Berufung. Bei uns stehen wir in Gefahr, mit Bürostunden zufrieden zu sein und das Ganzheitliche an diesem Dienst zu vergessen. Kirche zieht sich immer mehr ins Private zurück. Aber die Erfahrung unserer Partner sagt uns: Wir können es uns nicht leisten, aus der Öffentlichkeit zu verschwinden. So beginnt die Marginalisierung und Diskriminierung, ob selbst verschuldet oder nicht. Wir dürfen nicht schweigen, wenn religiöse Minderheiten diskriminiert werden. Mission ist Christsein in globaler Verantwortung. Es kann uns nicht egal sein, was einem Christ zum Beispiel in Nigeria zustösst.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Claudia Bandixen
studierte in Basel und Zürich Theologie. Sie war in den 90er-Jahren mit der Basler Mission in Chile im Einsatz. Von 2003 bis 2012 leitete sie als Präsidentin des Kirchenrates die reformierte Landeskirche Aargau. Claudia Bandixen lancierte zusammen mit den Präsidentinnen der Landeskirchen der Schweiz den internationalen Sylvia-Michel-Preis zur Förderung der Gleichstellung von Frau und Mann. Seit August 2012 ist sie Direktorin von Mission 21 in Basel.

Tagung
Von Donnerstag bis Samstag, 24.26. September, findet in Basel ein internationales Symposium statt zum Thema «Die Basler Mission 1815 bis 2015: Zwischenbilanz ihrer Geschichte, Schritte in die Zukunft». Referentinnen und Referenten aus vier Kontinenten setzen sich mit 200 Jahren Missionsarbeit auseinander.

Zum Bild: Mission 21-Direktorin Claudia Bandixen zeigt ein Bild, das die Geburt von Jesus mit den Symbolen der indischen Kultur darstellt.
Dominik Plüss

Interview: Karin Müller / Kirchenbote / 23. September 2015

Links:
Das Programm der Tagung zu 200 Jahren Mission

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