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Visitationsbericht: «Die Kernaufgaben sollten wir nicht infrage stellen»

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01.01.2016
Die Kirche wird kleiner. Doch sie übernehme wichtige gesellschaftliche Aufgaben und biete Menschen mit verschiedenen Überzeugungen Platz, betont Kirchenratspräsident Martin Stingelin.

Martin Stingelin, was hat Sie an den Ergebnissen des Visitationsberichtes überrascht?
Martin Stingelin: Das meiste habe ich erwartet. Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass grosse Herausforderungen anstehen und wir zum Beispiel Verfassung und Kirchenordnung revidieren müssen. Der Visitationsbericht bestätigt das nun. Überrascht hat mich aber, wie ausgeprägt gewisse Tendenzen sind. Zum Beispiel das Thema «Missionieren». Ich hätte nicht erwartet, dass die Vorbehalte gegen die Werbung von Mitgliedern so stark sind. Viele Kirchgemeinden trauen sich nicht, die Menschen dazu einzuladen, der Kirche beizutreten. Sie verstehen das als aufdringliches Missionieren.

Der Bericht verweist in diesem Zusammenhang auf die kantonalkirchliche Kampagne «kircheneintritt.ch», die er als «schweizerische Pionierleistung» bezeichnet. Das scheint in den Kirchgemeinden nicht angekommen zu sein. Haben die Kantonalkirche und die Kirchgemeinden ein Kommunikationsproblem?
Das glaube ich nicht. Die Kirchgemeinden kennen die Kampagne und haben die Werbeplakate ausgehängt. Aber das erzielt nicht die gleiche Wirkung, wie wenn der Pfarrer etwa in einem Taufgespräch erklärt, wie einfach es ist, bei uns Mitglied zu werden. Der persönliche Kontakt ist wichtig. Doch die zurückgehenden finanziellen Mittel zeigen Auswirkungen. Die Kirchgemeinden müssen sich Gedanken über Kooperationen und Fusionen machen und Pfarrstellen streichen. Wie gewährleistet man unter diesen Umständen, dass die Pfarrpersonen vor Ort präsent sind? Die Visitation hat gezeigt, dass dies eine der grossen Aufgaben ist, die es in Zukunft zu lösen gilt.

Die fehlenden finanziellen Mittel bereiteten in den Kirchgemeinden mehr Sorgen als der Rückgang der Mitgliederzahlen, obwohl beides direkt zusammenhänge, heisst es im Visitationsbericht. Wie erklären Sie sich das?
Die rückläufige Entwicklung der Mitgliederzahlen ist schon länger ein Thema. Die Steuereinnahmen blieben aber trotzdem lange konstant. Erst in den letzten zwei, drei Jahren nahmen diese ab. Hinzu kommt die Pensionskassenschuld, welche das Finanzproblem verschärft. Das Umdenken, dass die Einnahmen auch mit der Mitgliederzahl zusammenhängen, hat noch nicht überall stattgefunden. Allerdings können wir den Trend des Mitgliederrückgangs nicht einfach aufhalten, auch nicht, wenn wir heftig missionieren würden.

Ist dies das Ende der Landeskirche?
Nein, auch wenn wir kleiner sind, übernehmen wir noch immer wichtige gesellschaftliche Aufgaben, und bei uns finden Menschen mit verschiedenen Überzeugungen ihren Platz. Allerdings passt das Konstrukt einer Landeskirche, zu der einmal praktisch flächendeckend die Bevölkerung gehörte, nicht mehr in unsere Zeit. Wir können attraktive, lebendige Kirchgemeinden schaffen, wo sich die Menschen wohlfühlen und wo der eine oder andere neu hinzukommt.

Der Visitationsbericht empfiehlt, die Kantonalkirche zu stärken. Freut Sie das?
In der Tat bin ich froh und dankbar für diese Aussage. Der Visitationsbericht verbindet Kantonalkirche und Kirchgemeinden miteinander. Wir sollten uns, gerade weil wir immer kleiner werden, als Einheit sehen und einander unterstützen. Damit das klappt, müssen wir gut miteinander kommunizieren, damit Vertrauen entsteht.

Gemäss dem Visitationsbericht liegt die Zukunft der Kantonalkirche unter anderem im Ausbau der Spezialpfarrämter und Fachstellen. Sie sollen in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen und zu Kompetenzzentren ausgebaut werden. Erhalten sie nun mehr Geld?
Es ist sinnvoll, mit den Spezialpfarrämtern und Fachstellen als Kompetenzzentren gegen aussen und innen zu arbeiten. Der Kirchenrat hat der Synode jedoch versprochen, die Ausrichtung dieser Dienste zu überprüfen. Das werden wir tun. Der Visitationsbericht hat die inhaltliche Beurteilung bewusst ausgeklammert. Im Gegensatz zu anderen Kantonalkirchen sind unsere Dienste vorbildhaft, indem wir sie seit Jahrzehnten über die Grenzen der Kirchen hinweg gemeinsam entwickeln wie zum Beispiel das ökumenische Industriepfarramt beider Basel. Das hat aber auch einen Nachteil. Der Visitationsbericht schlägt vor, alle Dienste an einem Ort zusammenzuführen. Doch wir können nicht verlangen, dass das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft, an dem vier Kirchen gleichberechtigt beteiligt sind, nach Liestal zügelt.

Es fällt auf, dass Pfarrerschaft und Gottesdienst kein Thema sind im Bericht. Sind sie für eine Kirche nicht zentral?
Die Visitation geht davon aus, dass regelmässige Gottesdienste selbstverständlich sind. Sie waren nicht das Thema. Die Pfarrpersonen bleiben zentral für unsere Kirchgemeinden. Wir brauchen gut ausgebildete Theologen, die die Botschaft des Evangeliums weitergeben können. Zudem fällt den Pfarrpersonen in Zukunft eine weitere wichtige Rolle zu. Sie müssen und dürfen Freiwillige coachen. Darin sehe ich eine riesige Chance. Wir sind aufgrund der Finanzsituation zunehmend auf Freiwillige angewiesen. Sie sollen nicht nur Hilfsdienste verrichten, sondern Verantwortung übernehmen. Die Pfarrpersonen und Sozialdiakone haben die Aufgabe, die Freiwilligenarbeit zu professionalisieren.

Müsste man den Sonntags-Gottesdienst, der an vielen Orten schlecht besucht ist, nicht hinterfragen?
Auch wenn in einzelnen Kirchgemeinden am Sonntagmorgen nur noch etwas mehr als eine Handvoll Leute sitzt, ist der Gottesdienst verantwortlich dafür, dass die Kirche Kirche bleibt. Im Gottesdienst geschieht die Besinnung auf das Zentrum. Viele finden es gut, dass es Gottesdienste gibt, obwohl sie selten hingehen. Im Übrigen diskutierte man bereits Ende des 19. Jahrhunderts die schlechte Teilnahme am Gottesdienst. Das ist nichts Neues. Es gibt Kernaufgaben, die wir nicht infrage stellen sollten. Dazu gehören neben dem Gottesdienst unter anderem die Seelsorge, die diakonische Arbeit und der Religionsunterricht. Wir brauchen beides, die Verwurzelung in unseren Traditionen, die aber nicht in ein Erstarren führen darf, und ein Offensein gegenüber Neuem.

Interview: Karin Müller

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