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«Denken, was noch nicht gedacht ist»

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01.01.2016
Die Kirche soll laut dem Theologen Fulbert Steffensky mit Visionen in der Flüchtlingsfrage neue Horizonte aufzeigen. Er begrüsst die Migrationscharta, in der Kirchenleute eine neue, solidarischere Flüchtlingspolitik fordern.

Mit der Migrationscharta fordert die Gruppe «KircheNordSüdUntenLinks» ein freies Niederlassungsrecht für alle in der Schweiz. Ein Anliegen, das Sie voll unterstützen?
Das ist eine Vision, die ich voll unterstütze. Man darf sich nicht bannen lassen durch das, was aktuell möglich ist. Eine Vision ist ja nicht unrealistisch, weil sie vielleicht nicht umgehend zu verwirklichen ist. Man muss denken können, was noch nicht gedacht wird an andern Stellen. Das ist Aufgabe der Kirche.

Zwei weitere Hauptforderungen der Charta sind das Recht auf Asyl und die Existenzsicherung für Flüchtlinge. Auch da stehen Sie dahinter?
Ja, selbstverständlich. Ohne Existenzsicherung können Flüchtlinge nie eingegliedert werden. Sie können auch nicht auf Zeit hier leben, wenn ihre Existenz nicht würdevoll gesichert ist.

Der Aufruf der Migrationscharta ist eine Utopie, schreiben Sie in Ihrem Text «Die Migrationscharta und ihr ungebändigter Geist» (siehe unten). Gleichzeitig begrüssen Sie in dem Aufruf, wie darin Liebe in Gerechtigkeit, in politisches Handeln überführt werde. Utopie und reales politisches Handeln eigentlich ein Gegensatz.
Politisches Handeln, das nicht weiter denkt, als man handeln kann das also keine Utopie ist ist ein gefährliches Denken. Für mich ist das kein Gegensatz. Man muss tun, was jetzt schon möglich ist, und denken, was noch nicht möglich ist. Sonst verfällt man einem puren Pragmatismus. Ich weiss, es gibt Einwände gegen Utopien der verstorbene Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte einst, wer Utopien habe, solle zum Psychiater. Das ist ein irrer Pragmatismus. Das bändigt Ideen.

Die Migrationscharta formuliert Forderungen an eine neue Migrationspolitik aus biblisch-theologischer Perspektive. Erreicht man damit einen Grossteil der Bevölkerung?
Man erreicht damit viele Menschen, einen Grossteil der Bevölkerung aber noch nicht. Die Ängste wachsen. Die Hauptidee der Charta ist, Hilfsbereitschaft in Recht zu überführen. Hilfsbereitschaft allein genügt jedoch nicht, so wundervoll sie ist. Es muss zum Recht der Flüchtlinge werden, sowohl hierbleiben zu können, die Existenz gesichert zu haben, und auch in Würde leben zu können.

Sie sind Deutscher, leben heute in Luzern. Was fällt Ihnen auf, wenn Sie die beiden Länder vergleichen hinsichtlich der Stimmung und Politik gegenüber den Flüchtlingen?
Die Schweiz ist bisher nicht im selben Mass von Flüchtlingsströmen betroffen wie Deutschland. Ich wundere mich sehr über die sehr breite Hilfsbereitschaft in Deutschland und freue mich darüber. Aber ich sehe auch, wie die Ängste wachsen. Die Ängste in der Schweiz scheinen mir noch grösser zu sein als in Deutschland. Wenn ich an die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative denke, scheint die Bereitschaft zur Offenheit gegenüber Fremden beschränkt zu sein.

In der Schweiz ist «Das Boot ist voll» ein geflügeltes, oft verwendetes Wort. Wann ist ein Boot voll in einer zentraleuropäischen Gesellschaft?
Wir sind reiche Gesellschaften, in der Schweiz wie in Deutschland. Das Boot ist voll, wenn der letzte Flüchtling gekommen ist. Ich wehre mich gegen solche suggestiven Bilder und Verführungen wie «das Boot ist voll, wir werden islamisiert, unsere Gesellschaft verliert ihren christlichen Charakter.» Das sind gefährliche Beschwörungen von rechter Seite.

Viele, zu viele Flüchtlinge können aber die Strukturen einer solidarischen Gesellschaft überfordern.

Ja, sie werden sie überfordern. Doch die Strukturen der Gesellschaft werden sich ändern. Deutschland wird ein anderes Land werden. Es gibt ja viele Leute, auch aus der Wirtschaft, die sagen, wir brauchen diese Flüchtlinge in unserm kinderarmen Land. Auf Veränderungen müssen wir uns gefasst machen. Ich glaube, dass noch grössere Völkerwanderungen auf uns zukommen werden etwa wenn durch die Klimaveränderung Bangladesh unter Wasser gesetzt wird. Das wird uns langfristig verändern, wir werden ärmer wir sind ja reich genug.

Eine Überforderung ist also nichts Schlechtes?

Überforderung ist an sich etwas Gefährliches, erzeugt Ängste. Doch ich sehe die Herausforderung durch die Flüchtlinge nicht als Überforderung. Wenn man die Bergpredigt und die christliche Tradition ernst nimmt, haben wir uns dieser Herausforderung zu stellen. Man sollte nicht vorschnell von Überforderung sprechen wir haben ja noch nichts von unserer wirtschaftlichen Substanz abgegeben, nicht das Geringste. Wir profitieren nach wie vor in den Handelsbeziehungen mit Ländern, aus denen die Flüchtlinge herkommen. In Zukunft wird es soweit kommen, dass wir nicht nur beiläufig-mildtätig etwas geben, sondern von unserer Substanz werden abgeben müssen. Das wird unser Wirtschaftssystem und uns verändern.

Kann das System der Hilfe für alle Flüchtlinge auseinanderbrechen?
Die Gefahr besteht. Doch mein Blick richtet sich zuerst auf jene, die in ihrem Land nicht leben können. Wir haben lächerlich wenige Flüchtlinge bei uns im Vergleich zu Libanon oder zur grossen Migration in Afrika selber.

«Es ist Zeit, dass die Kirchen in der Schweiz ihre Kräfte bündeln Sie sind zu schärfstem Protest und zum Vorlegen eigener Vorschläge gedrängt», heisst es in der Migrationscharta. Wie bewerten Sie die Flüchtlingspolitik der Kirche in der Schweiz?

Die Flüchtlingspolitik der Kirche in Deutschland ist radikaler. Ich hab das am Kirchentag erlebt: Da kam kein Politiker ungeschoren davon. In Deutschland muss der Staat stärker auf die Stimme der Kirchen achten, weil die Verflochtenheit der beiden Institutionen stärker ausgeprägt ist und das nicht in einem schlechten Sinn.

Ist die Kirche zu zurückhaltend in der Flüchtlingspolitik?

Zur Gesamtkirche kann ich wenig sagen. Da, wo ich hinkomme, stelle ich eine grosse Entschiedenheit fest die Gruppe zur Migrationscharta oder Frauengruppen etwa engagieren sich stark. Die Kirchen müssen sich mit ihren Visionen und Utopien öffentlich stärker einbringen. Ich wollte, es gäbe so etwas wie Lobbyarbeit der Kirchen bei den Politikern in der Schweiz. Die Zigarettenlobby ist ja auch aktiv. Warum also nicht eine Lobby des Geistes, die auf die Politiker einwirkt? Statt einzelner Gespräche zwischen Kirche und Politik sollte es offizielle Organe geben, in denen Kirche und Staat aufeinander hören müssen bei entscheidenden gesellschaftlichen Fragen.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».



Fulbert Steffensky

Der katholische und evangelische Theologe (82) lebte 13 Jahre lang im Benediktinerkloster Maria Laach. 1969 konvertierte er zum lutherischen Bekenntnis. Später war er Professor für Erziehungswissenschaft und für Religionspädagogik. Seit sechs Jahren lebt er in Luzern.

Am Samstag, 23.Januar 2016, findet ab 9.45 Uhr in Bern im Kirchgemeindehaus Johannes eine öffentliche Tagung zur Migrationscharta statt, mit Diskussionen und Workshops. Nähere Informationen und Text der Migrationscharta unter www.migrationscharta.ch


Zum Bild: Steht vollumfänglich hinter den Vision der Kirche für eine solidarischere Flüchtlingspolitik: Fulbert Steffensky.
Foto: zvg


Der Kommentar von Fulbert Steffensky im Wortlaut:
Die Migrationscharta und ihr ungebändigter Geist
«Die vernünftigen Freigeister sind leichte fliegende Korps, immer voraus und die die Gegenden rekognoszieren, wohin das gravitätische geschlossene Korps der Orthodoxen am Ende doch auch kommt.» (Georg Christoph Lichtenberg) Ein solches fliegendes Korps ist das Ökumenische Netzwerk KircheNordSüdUntenLinks, eine Gruppe von christlichen Männern und Frauen, die auf der gesellschaftlichen Relevanz des christlichen Glaubens besteht. Sie haben Grundsätze einer neuen Migrationspolitik aus biblisch-theologischer Perspektive erarbeitet und diese an Pfingsten dieses Jahres veröffentlicht. Pfingsten ist das Fest der unerwarteten Neuheiten. Ein neuer Geist und gesellschaftliche und kirchliche Reformen gehen meist nicht von Grossinstitutionen und ihren Vertretern aus. (Papst Franziskus mag eine Ausnahme sein.) Er hat seinen Ort zunächst in den vorpreschenden Gruppen. Solche Gruppen denken, was in der Grosskirche noch nicht gedacht wird. Sie nehmen vorweg, was in den Institutionen später Praxis wird. Sie sind die Läuse im Pelz der Grosskirche. Grosskirchliche Institutionen sind langsam, sie sind an Bewahrung und Harmonie interessiert. Das ist nicht falsch, sofern die grosse Institution aufmerksam darauf achtet, was in diesem Basisgewusel gärt. Meistens geht es nicht ohne Konflikt zwischen den Gruppen und den Grossinstitutionen ab. Neue Wahrheiten entstehen und werden oft klar durch das Kältebad der Konflikte. Man muss sich gegenseitig oft Schmerzen zufügen, um der Wahrheit ans Tageslicht zu verhelfen.

Was also mutet die Gruppe KircheNordSüdUntenLinks den Kirchen zu? Der Titel ihrer Migrationscharta sagt es: Freie Niederlassung für alle: Willkommen in einer solidarischen Gesellschaft! Sie geht aus von drei Voraussetzungen: Alle Menschen sind gleich, die Gerechtigkeit leitet, die Solidarität entscheidet. Daraus drei Forderungen: Das Recht auf freie Niederlassung, das Recht auf Asyl, das Recht auf Sicherung der Existenz.

Ich schätze an diesem Aufruf zunächst die pfingstliche Unbekümmertheit, mit der diese den üblichen, der Selbstrechtfertigung dienenden Pessimismus durchbricht. «Das Boot ist voll, was wird aus unserem Land? Was wird aus unserer abendländischen Identität?» Das sind Selbstbekümmerungen, die das Denken lähmen und Initiativen schon im Keim ersticken. Der Aufruf ist eine Utopie, d.h. er lässt sich nicht bannen vom Diktat der ausgerechneten Möglichkeiten. Er ist so utopisch wie die Bergpredigt, die die Armen, die Hungernden und die Weinenden jetzt schon selig preist. Eine Utopie lässt sich nicht einfangen von einem pessimistischen, sogenannten Realismus, der nichts anderes zu denken und zu wünschen erlaubt als das, was jetzt schon möglich ist. Wer nur denkt, was man jetzt denken kann, spricht die Gegenwart heilig und verrät die Zukunft. Der Gruppe ist Populismus vorgeworfen worden. Wo waren Utopien je populär?

Ich schätze an diesem Aufruf, wie Liebe in Gerechtigkeit, also in politisches Handeln überführt wird. Er denkt nicht nur an Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge und Immigranten, er denkt ihr Recht. Gerechtigkeit ist strukturell gedachte Liebe; es ist nicht nur die personale Zuneigung des einen zum anderen. Diese Liebe denkt nicht nur interpersonal, sondern sie lebt in der strukturellen Beachtung von Wirklichkeit. Wenn diese Liebe langfristig ist und ihre politische Naivität abgeschüttelt hat, dann weiss sie, was der Markt und die Ökonomie den Menschen antun können. Die Tugend der Nächstenliebe ist erwachsen geworden, sie denkt politisch. Sie kann sich vorstellen, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.» (Karl Marx) Diese öffentlich gewordene und an Öffentlichkeit interessierte Liebe verdient am ehesten den Namen Solidarität. Solidarität also ist die Haltung, die die Bedingungen und die Strukturen des menschlichen Lebens bedenkt. Gerechtigkeit will das Recht der Rechtlosen, nicht nur Caritas für sie.

Die Männer und Frauen, die den Aufruf verfasst haben, denken konsequent von unten, von dem Leid und der Schändung der Armen her. Der Aufruf «hat seine Wurzeln in der herrschaftskritischen Grundstruktur der Bibel und der jedem Menschen zugesprochenen Würde» (Charta). Das aber war immer schon eine Zumutung an die Kirchen, die Zumutung der Bergpredigt. Das Mysterium Gottes ist vom Mysterium der Armen nicht zu trennen. «Der Hunger dieser Welt ist der Ort Gottes», hat der in El Salvador ermordete Jesuit Ignacio Ellacuría gesagt, er fährt fort: «So müssen wir uns als Kirche fragen: Was haben wir getan, um die Armen ans Kreuz zu bringen? Was tun wir, um sie vom Kreuz abzunehmen? Was tun wir, um sie aufzuerwecken?» Billiger können die Kirchen ihren Christus nicht haben.

Stefan Schneiter / reformiert.info / 1. Dezember 2015

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