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«Losungen sind keine Orakel»

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01.01.2016
Neujahr ist die hohe Zeit der Astrologen und Hellseher. Zwei Bibelverse für jeden Tag als Wegweiser durch das Jahr bieten auch die Losungen, welche die Herrnhuter Brüdergemeine jeweils im Mai zieht. Die Losungen sind das am meisten verbreitete Andachtsbuch der Protestanten.

Bei weit über einer Million Menschen liegen sie auf dem Frühstückstisch. Bei anderen erscheinen sie auf dem Smartphone. Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Er lese sie jeden Tag, erzählt Volker Schulz. Immer vor dem Frühstück, zusammen mit seiner Frau. «Ab und zu singen wir den Vers, der als Dritt-Text abgedruckt ist.» Schulz ist Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine und der einzige reformierte Bischof auf Schweizer Boden. «Die Vertrautheit mit den biblischen Texten tut gut», sagt er. Die Losungen helfen Schulz im Alltag «den Blick auf Gott und von Gott her zu behalten auf all das, was uns umtreibt». Kommt Volker Schulz nicht zu seinem täglichen Ritual, dann fehlt ihm etwas.

Seit 1731 gibt die Herrnhuter Brüdergemeine die Losungen heraus, die je aus einem Bibelwort aus dem Alten und Neuen Testament sowie einem Liedvers oder Gebet bestehen. Einmal im Jahr werden sie im barocken Sitzungssaal des Vogthofs zu Herrnhut gezogen. Die Stimmung ist feierlich. Spannung liegt in der Luft, wenn die Hände in die silberne Schale greifen und aus 1824 Losnummern die 365 Tageslosungen ziehen.

In 50 Sprachen gedruckt
Inzwischen sind die Losungen das am meisten verbreitete Andachtsbuch des Protestantismus. Weltweit wird es in 50 Sprachen gedruckt. Dass man die Losungen über den halben Erdball hinweg liest, gibt Volker Schulz das Gefühl, mit der weltweiten Christenheit verbunden zu sein.

Die Liste der Prominenten, die Losungen lasen, ist lang, angefangen bei Dichterfürst Goethe über Otto von Bismarck und Ferdinand Graf von Zeppelin bis zum Theologen Jochen Kleppers. Für einige wurden sie zum Orakel. Die Geschichte scheint sie zu bestätigen: Einen Tag nach der Währungsreform, als die D-Mark in der DDR eingeführt wurde, lautete die Tageslosung «Der Herr macht arm und reich» (1. Samuel 2,7).

«Losungen sind keine Orakel», meint Volker Schulz, «sondern Gottes Wort an uns.» Biblische Texte hätten eine Wahrheit an sich. Faszinierend sei, dass in jedem Losungswort etwas steckt, das uns den Weg weist. Es beeindruckt den 57-Jährigen, wie der Text in der Not tröstet und die Menschen aufrichtet.

Keine Hellseherei
Die Losung zum Tag seiner Geburt hat Schulz nie interessiert. Er hat sie nie nachgeschlagen. Die Herrnhuter Brüdergemeine erreichen zahlreiche Anfragen nach Losungen aufgrund von persönlichen Daten. Im Gespräch versucht Volker Schulz, die Erwartungen nach Hellseherei zu dämpfen.

Wenn der Pfarrer Abdankungen vorbereitet, greift er auf die Losungen zum Todes- und Geburtstag zurück. Es sei beeindruckend, wie in so manchem Fall dieses biblische Wort wie ein «Generalton über das Leben klingt, wie dicht das Wort am Leben des Verstorbenen war». Für Schulz hat dies aber nichts mit Orakel zu tun, sondern damit, dass das Leben im Angesicht Gottes in einen grösseren Zusammenhang eingebettet sei. «Das erkennt man naturgemäss erst im Rückblick.»


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «Interkantonaler Kirchenbote», «ref.ch» und «reformiert.».


Zum Bild: Wegweiser für 2016: «Die Losungen sind Gottes Wort an uns», meint Volker Schulz, Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine.
Foto: Zuber/Kirchenbote

Tilmann Zuber / Kirchenbote / 27. Dezember 2015

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