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Fresh Expressions: Kirche auf die Füsse stellen

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01.01.2016
Am kommenden Samstag, 16. Januar, findet zum vierten Mal der «Impulstag fresh expressions» statt. Thomas Schaufelberger, Leiter der Tagung, über Pionierpfarrer, deren zukünftige Ausbildung und die Bereitschaft von Kirchenleitungen, Kontrolle abzugeben.

Herr Schaufelberger, seit Jahren hört man von den «fresh expressions of Church», jährlich gibt es Studienreisen nach England, und mittlerweile findet bereits der vierte Impulstag statt. Trotzdem sieht man hierzulande kaum etwas von diesen «frischen Ausdrucksformen von Kirche». Warum?
Das sehe ich nicht so. Wenn wir in die Kirchenlandschaft hinausschauen, gibt es seit Jahrzehnten Pfarrpersonen, die als Unternehmer in Nischen hineingehen und Projekte entwickeln, die angepasst sind an einen bestimmten Sozialraum. Die beispielsweise eine spezielle Jugendarbeit aufziehen oder alternative Gottesdienste anbieten. Niemand würde das als «fresh expressions» bezeichnen. Aber es sind durchaus solche. Und auch die über 300 Pfarrpersonen, die schon an Studienreisen nach England teilgenommen haben, haben Impulse umgesetzt. Wenn auch teilweise im Kleinen.

Dann liegt es also nur an der fehlenden Kennzeichnung?
Vieles geschieht nicht unter einem bestimmten Label und mit viel Werbung, sondern eher subkutan. Im «Netzwerk fresh expressions» sammeln sich viele, die Interesse daran haben, Kirche und Pfarramt weiter zu entwickeln. Die Metalchurch oder das Sonntagzimmer in Basel-Stadt gehören zu den bekannten Projekten, aber es gibt auch viele kleine.

Zum Beispiel?
Ein Pfarrer kam nach einer Studienreise von England zurück und liess für das Türschloss seiner Kirche zwanzig Schlüssel anfertigen, die er an Interessierte verteilte, welche die Kirche regelmässig nutzen wollten. Inzwischen treffen sich dort Gruppen, die teilweise wenig bis gar keinen Bezug zur traditionellen Kirchgemeinde haben, die in dieser Kirche aber Raum finden für ihre Ideen. Bei «fresh expressions» ist entscheidend, Räume aufzutun und Menschen bei der Gestaltung zu unterstützen. Das sieht dann oft anders aus, als wenn Profis das alles selber machen würden.

Apropos Profis: Pfarrpersonen müssen heute schon im traditionellen Pfarramt ausserordentlich vielseitig sein. Nun sollen sie auch noch «fresh expressions»-Projekte lancieren?

Wir brauchen die Vielfalt nicht in einer einzigen Person zu haben. Das wäre eine Überforderung. Die Diversität entsteht, wenn sich verschiedene Pfarrpersonen mit unterschiedlichen Begabungen ergänzen. Das funktioniert zum Beispiel gut in Pfarrteams, in denen eine gewisse Differenzierung im Pfarramt schon immer möglich war.

Das klappt ja in grösseren Kirchgemeinden. Wie soll das dort gelingen, wo bisher nur eine Pfarrperson für das ganze Angebot zuständig ist?
Im Kanton Zürich ist das vom Kirchenrat inzwischen klar beantwortet. Aber auch die Reformen in anderen Kantonen zielen in eine ähnliche Richtung: Wir kommen um grössere Kirchgemeinden nicht herum. Nur so kann die Vielfalt zu spielen beginnen. So kann eine «mixed economy» entstehen, die letztlich mehr Menschen anspricht als das jetzige Allroundmodell. Damit gewinnen die Kirche und die Menschen, die in ihr arbeiten.

Für Pfarrerinnen und Pfarrer der Church of England ist es möglich, zwischen zwei Ausbildungswegen zu wählen: Entweder werden sie in traditioneller Gemeindearbeit geschult oder für einen pionierartigen Einsatz bei «fresh expressions of Church». Ein mögliches Modell auch für die Schweiz?
Durchaus. Eine Vernehmlassung in den 18 Konkordatskirchen hat ergeben, dass ein Bedarf an Pionierpfarrpersonen besteht. Im September wird eine Tagung am Theologisch-Diakonischen Seminar in Aarau die Frage aufwerfen, ob und wie wir Pfarrpersonen im Bereich eines innovativen «Pionier-Ministry» aus- oder weiterbilden können.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Pioniere nach ein paar Jahren frustriert aussteigen, weil es in den Kirchgemeinden an Mut fehlt, für «fresh expressions»-Projekte Gelder zu sprechen?
Ich spüre bei den Kirchenleitungen ein grosses Bewusstsein dafür, dass sich Kirche bewegen muss. Dass sie nur eine Zukunft hat, wenn sie neben dem traditionellen System eine Beteiligungskirche wieder neu stärkt und fördert. Den Entscheidungsträgern ist vollkommen klar, dass das bedeutet, Menschen Raum zu geben ohne vorher schon zu wissen, ob alles funktionieren wird und ob alles gut kommt. Das hat viel mit Vertrauen zu tun und der Bereitschaft, Kontrolle abzugeben. Auf lokaler Ebene ist das dann in der Tat sehr abhängig davon, wer an Personen vor Ort ist.

Für die Tagung vom kommenden Samstag haben Sie mit Philipp Elhaus und Christian Hennecke zwei deutsche Referenten eingeladen. Weshalb?
An den ersten Impulstagungen hatten wir Referenten aus England. Wir merkten, dass es uns letztlich nicht um das Label «fresh expressions of Church» geht und darum, das zu kopieren, was wir in England sehen. Sondern darum, zu überlegen, wie das in unseren Kirchen aussehen könnte. So interessieren uns Ansätze aus dem deutschsprachigen Raum. Beide Theologen haben sich mit dem Thema befasst, wie es der Kirche im veränderten gesellschaftlichen Kontext des neuen Jahrtausends gelingen kann, sich neu aufzustellen und einen kirchlichen Aufbruch zu ermöglichen.

Wie gross ist die Resonanz bei den Anmeldungen?

Zurzeit haben wir etwas über 150 Anmeldungen. Das ist eine gute Resonanz. Die Katholiken sind gespannt auf Christian Henneke. Und die Reformierten im Kanton Zürich interessiert besonders, wie die Landeskirche «fresh expressions»-Impulse im Rahmen des Reformprozesses KirchGemeindePlus umsetzen könnte.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger (47) ist seit 2010 Leiter der Aus- und Weiterbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen für die Deutschschweizer reformierten Landeskirchen. Seit einem Jahr steht er der Abteilung Kirchenentwicklung der Zürcher Kirche vor. In dieser Funktion ist er Projektleiter von «KirchGemeindePlus», dem Reformprozess der Kirchgemeinden im Kanton Zürich. Er ist Mitgründer des Netzwerkes «fresh expressions Schweiz».

«fresh expressions»
Die ursprünglich aus England kommende Bewegung «fresh expressions of Church» sucht christliche Gemeinschaft mit Menschen, die keinen Bezug (mehr) zur Kirche haben. Unter diesem Begriff hat die Anglikanische Kirche in den letzten dreissig Jahren, als Antwort auf die Säkularisierung der englischen Gesellschaft, mit einer Vielfalt von Formen experimentiert. Dabei sind über 2000 neue Kirchen und Gruppen entstanden. Die «fresh expressions of Church» ermöglichen Menschen, Kirche selber zu gestalten.


Zum Bild: Thomas Schaufelberger

Interview: Raphael Kummer / ref.ch / 13. Januar 2016

Links:
4. Impulstag fresh expressions

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