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«Das Christentum gehört für uns Juden zu Gottes Plan»

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01.01.2016
Jehoschua Ahrens hat mit anderen orthodoxen Rabbinern eine Erklärung veröffentlicht, welche die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum auf eine neue Ebene stellt. Im Interview spricht er über «revolutionäre Aussagen» im Papier und die Leistung des Christentums aus jüdischer Sicht.

Sie haben gemeinsam mit anderen orthodoxen Rabbinern eine Erklärung zur Partnerschaft zwischen Juden und Christen unterzeichnet. Worum geht es?
Jehoschua Ahrens: Entscheidend ist zuerst, dass von jüdischer Seite und insbesondere von orthodoxer Seite nicht einfach eine Reaktion kommt auf etwas, was von einer christlichen Kirche ausgeht, sondern dass wir auch einmal agieren. Inhaltlich anerkennen wir, dass sich die theologische Position der etablierten Kirchen in Bezug auf das Judentum entscheidend geändert hat: Seit der Vatikan-Schrift «Nostra Aetate» vor fünfzig Jahren wird der Bund zwischen Gott und Israel nicht mehr hinterfragt. Damit ist auch die Frage, ob Juden missioniert werden müssen, definitiv Geschichte. Wir wiederum halten fest, dass die Aufspaltung in Judentum und Christentum Gott gewollt und Jesus auch für uns Juden theologisch eine wichtige Figur ist. Das ist eine revolutionäre Aussage.

Warum?
Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Christentum in der jüdischen Orthodoxie als avoda sara, also als Götzendienst oder fremder Kult galt und teilweise immer noch gilt. In der Orthodoxie gibt es deshalb noch genug Leute, die sagen, mit den Kirchen können wir zwar partnerschaftlich zusammenarbeiten und über gemeinsame Werte diskutieren, aber als Religion anerkennen können wir das Christentum nicht. Da fehlt es für mich grundlegend am Respekt. Wir stützen uns wie in der Orthodoxie üblich auf Quellentexte. Laut dem jüdischen Religionsgesetz kann man so oder so argumentieren: Götzendienst oder Plan Gottes. Wir haben uns nun klar für die zweite Interpretation entschieden.

Wie stark ist Ihr Rückhalt?
Wir sind eine Minderheit. Aber wir haben das ganze Spektrum dabei: links, Mainstream und rechts. Noch existieren viele Ängste und Vorbehalte auf jüdischer Seite. Sie sind aufgrund der Geschichte verständlich. Deshalb wird die Diskussion innerhalb der Orthodoxie noch sehr kontrovers geführt. Aber das war bei den christlichen Kirchen vor fünfzig Jahren ja nicht anders, als der Vatikan «Nostra Aetate» veröffentlichte. Die Unterzeichnenden sind alle im interreligiösen Dialog engagiert. Wir wissen, dass die Wende unumkehrbar ist und unsere Positionierung von christlicher Seite nicht für irgendwelche missionarische Zwecke missbraucht wird.

Welche Rolle spielt Jesus für das Judentum?
Natürlich benennen auch wir die Differenzen. Für uns ist Jesus nicht der Messias. Aber: Am Anfang war das Judentum die einzige monotheistische Religion. Eigentlich sollten wir Juden die Tora, die Botschaft Gottes, in alle Welt verbreiten. Aber wir waren offensichtlich nicht sehr erfolgreich damit oder die Welt war nicht bereit dafür, diese Botschaft anzunehmen. Hier sehen wir eben, was das Christentum und später der Islam geschafft haben. Sie haben den Gott Israels in alle Welt getragen und dafür gesorgt, dass sich der Monotheismus ausbreitet. Das grosse Verdienst des Christentums und später des Islams ist also, dass sich der Glaube an den einen Gott verbreiten konnte und sich die damit verbundenen Werte etablierten.

Sie haben auch gleich den Islam erwähnt. Beten Juden, Christen und Muslime zum gleichen Gott?
Es geht sicherlich immer um den gleichen Gott. Diese Erklärung bezieht sich jetzt nur auf das Christentum. Man könnte sie aber auch auf den Islam erweitern. Der Dialog mit Muslimen ist wichtig. Aber obwohl sich Judentum und Islam theologisch und vor allem religionspraktisch näher stehen als Judentum und Christentum, gibt es zurzeit gewichtige kulturelle, soziale und politische Gründe, die uns auseinander dividieren.

In der Erklärung beziehen Sie sich auf die erwähnte Schrift «Nostra Aetate» aus dem Vatikan. Ist die Erklärung also vor allem wichtig für die Beziehungen zur katholischen Kirche?
Nein. Sie ist an alle Christen gerichtet. Das Jubiläum der Schrift war nur einer der Aufhänger. Auslöser waren auch antichristliche Taten in Israel. Zum Beispiel der Brandanschlag von radikalen Juden auf eine Kirche in Galiläa. Da wollten wir klar machen, dass solche Angriffe nicht mit dem Judentum vereinbar sind. Und wir wollten mehr als einfach eine Reaktion. Wir wollten eine Neubestimmung, die praktische Auswirkungen hat.

Welche?
Das muss sich weisen. Bisher war Dialogarbeit oft etwas, das sich in Hinterzimmern abspielte. Alte Männer diskutierten abstrakte Fragen, schüttelten sich nett die Hände und feierten schöne Zeremonien. Wir aber meinen, dass christliche und jüdische Gemeinden in der Sozialarbeit oder Bildung viel enger zusammenarbeiten könnten. Und wir glauben, dass heute die grossen Trennlinien nicht mehr zwischen christlich und jüdisch verlaufen, sondern zwischen religiös und säkular.

Eine Koalition der Gläubigen?
Als Menschen, die an einen Gott glauben und sich an tradierte Werte gebunden fühlen, gehören wir einer Minderheit an. Wir müssen uns fragen: Wie können wir Gott und unsere Werte in die Gesellschaft einbringen? Es geht um Themen wie Familie, Wert des Lebens, Gerechtigkeit. Auch als Praktiker kämpfen wir mit den gleichen Problemen: Wie bringe ich wieder mehr Menschen in die Synagoge beziehungsweise in die Kirche? Wie kann ich religiöse Werte in einer säkularen Gesellschaft an die junge Generation weitergeben? Da können wir viel voneinander lernen.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Jehoschua Ahrens
In Sofia, Zürich und Düsseldorf arbeitete Jehoschua Ahrens (37) als Rabbiner. Nun hat er vom Nationalfonds ­einen Forschungsauftrag über die Anfänge des christlich-jüdischen Dialogs in der Schweiz übernommen. Der orthodoxe Rabbiner lebt mit seiner Familie in Düsseldorf.


Zum Bild: «Als Menschen, die an einen Gott glauben, gehören wir einer Minderheit an», Rabbiner Jehoschua Ahrens über die neue Ausgangslage im interreligiösen Dialog.
Foto: Reto Schlatter/reformiert.

Interview: Felix Reich / reformiert. / 18. Januar 2016

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