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«Der Notnagel ist oft Psalm 23»

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01.01.2016
Zuhören, reden, nachfragen: Den Suizid zu thematisieren kann Leben retten und Angehörigen helfen. Dies das Fazit eines Podiums zu Suizid am Dienstagabend in Uster.

«Ich suchte selber mit der Taschenlampe in der Nacht nach meiner Mutter. Nachdem man sie am nächsten Tag gefunden hatte, bekamen die Nächte etwas Bedrohliches», erzählte die junge Frau auf dem Podium, die ihre Mutter durch Suizid verloren hat und anonym bleiben möchte.

«Ich habe danach nächtelang durchgeschrieben und eine Psychotherapie begonnen. Jetzt bin ich auch bei einer Selbsthilfegruppe. Das alles hat mir geholfen, ebenso die Unterstützung durch das Care-Team, das bereits zur Stelle war, als wir die Mutter als vermisst meldeten. Ein Polizist informierte uns laufend über die Suche.»

Sprachlosigkeit ausdrücken

Sie erzählt gefasst und überlegt. Dass sie hier oben stehe, habe Überwindung gekostet, aber über Suizid zu reden sei sehr wichtig, sowohl für die Verarbeitung wie die Prävention. Am meisten habe sie verletzt, wenn jemand gar nicht auf den Suizid reagiert habe. «Das war hart. Ich habe deshalb den Kontakt abgebrochen. Man kann sprachlos sein, das ist verständlich. Aber man sollte es ausdrücken können.»

So habe ein Bekannter einfach ihre Hand gedrückt, ohne ein Wort zu sagen. Oder jemand habe eine Karte geschickt, auf der nach der Anrede nur Pünktchen kamen. «Auch diese Form von Anteilnahme hat mir gut getan», erzählt sie. «Und beim Abschiedsgottesdienst waren sehr viele Leute. Auch das hat mir geholfen.»

Dass Anteilnehmen und Reden generell wichtig sind, bestätigten auch die anderen Teilnehmer des Podiums, das die Ustermer Pfarrerin Silvia Trüssel vor rund 50 Zuhörerinnen in der reformierten Kirche Uster moderierte.

Es gibt keine Antwort
«Als Seelsorger bin ich zunächst einfach da», sagte Pfarrer Roger Müller, der Gesamtleiter der Notfallseelsorge des Kantons Zürich. «Man versucht, bei den Angehörigen nach einem Suizid die Situation zu stabilisieren.» Es tauchten «wahnsinnige Gefühle» wie Wut oder Verzweiflung auf. «Die Frage, warum Gott das zugelassen hat, versuchen wir zu umschiffen. Es gibt keine Antwort darauf. Im ersten Moment, wenn alles düster und chaotisch ist, ist oft Psalm 23 der Notnagel: Der Herr ist mein Hirt, mir mangelt nichts... »

Später könne man die Ressourcen der Betroffenen anzapfen und mit ihnen herausfinden, was in ähnlichen Fällen geholfen hat. Schwer belastet, das dürfe man nicht vergessen, seien auch die Rettungskräfte: «Sie sehen Bilder, die vor allem den Jüngeren enorm zu schaffen machen, etwa wenn sich Menschen vor den Zug gestürzt haben.»

«Komme ich hier je wieder raus?»
Gemäss Ramin Mansour, leitendem Arzt der psychiatrischen Klinik Hohenegg, ist der Klinikeintritt für Menschen mit Suizidabsichten eine hohe Schwelle. «Komme ich hier je wieder raus? Werde ich jetzt medikamentös abgestellt?», werde oft gefragt. Dabei würden heute allgemein Zwangsmassnahmen zurückgefahren und durch «Open door»-Konzepte ersetzt. «Und die Suizidzahlen gehen durch ein sogennant enges Setting nicht zurück.» Mansour betonte, dass bei 90 Prozent der Suizidalen eine psychische Störung vorliege, die man in der Regel gut behandeln könne.

Ein Zuhörer fragte, ob man jemanden vom Suizid abhalten könne, wenn man ihn auf die schlimmen Folgen bei den Angehörigen hinweise. Mansour verneinte: «Damit drehen Sie nur weiter an der Abwärtsspirale und belasten den Patienten noch mehr.»

Wie geht ein Psychiater überhaupt mit diesen Belastungen um? «Ich muss mir immer vor Augen halten, wie viele Menschen durch erfolgreiche Therapien vom Suizid bewahrt wurden, auch wenn es dazu keine Zahlen gibt», sagte Mansour. Und: «Man darf nicht zum Zyniker werden.»

Wohin mit der Schuld
Die Frage nach der Schuld taucht bei den Angehörigen immer wieder auf. «Auch wenn man mir sagt, ich trage keine Schuld, muss ich mit dieser Frage für mich alleine fertig werden», erzählte die Tochter. Die Schuldfrage führt nirgend hin und steht doch im Raum. Tröstlich mag hier sein, dass die Bibel nie über Suizide wertet, sondern sie einfach erzählt. Erst in späteren Jahrhunderten begannen Theologen, den Suizid zu verurteilen.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Suizidprävention
An der Veranstaltung stellte die Koordinatorin Marie-Eve Cousin das Schwerpunktprogramm Suizidprävention des Kantons Zürich vor. In den nächsten drei Jahren würden 18 Projekte umgesetzt. Dafür stünden drei Millionen Franken zur Verfügung. Es soll primär mit Flyern oder Kampagnen über Suizidprävention informiert, aber auch Suizidmethoden eingeschränkt werden, indem man beispielsweise Schusswaffen und Medikamente einsammle.


Zum Bild: Pfarrer Roger Müller, eine Angehörige, deren Mutter Suizid begangen hat, Pfarrerin Silvia Trüssel, der Arzt Ramin Mansour sowie Marie-Eve Cousin vom Zürcher Schwerpunktprogramm Suizidprävention (von links).
Foto: ref.ch/Matthias Böhni

Matthias Böhni / ref.ch / 20. Januar 2016

Links:
Weitere Veranstaltung der Themenreihe «Suizid» der reformierten Kirchgemeinde Uster

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