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Reformierte Spiritualität − ein Phantom?

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01.01.2016
«Gibt es eine reformierte Spiritualität? Auf den Spuren von Tradition, persönlichen Wurzeln und heutiger Glaubenspraxis» − so hiess die Tagung, zu der am 25. und 26. Januar die Berner Pfarrerweiterbildung pwb zusammen mit dem Pfarrverein Bern-Jura-Solothurn eingeladen hatten. Eindrücke vom ersten Tag zeigen: Es kommt drauf an.

«Schon die Fragestellung ist typisch reformiert», so Matthias Zeindler, Theologiebeauftragter der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Niemand käme auf die Idee zu fragen, ob es eine orthodoxe Spiritualität gebe. Aber eine reformierte Tagung, so werde erwartet, «muss mit einer Problemanzeige starten.» Sein eigener Beitrag machte da keine Ausnahme: «Nur reden und denken?» hiess er und griff damit genau jenes Stereotyp auf, das reformierter Glaubenspraxis schon immer anhaftet.

Wobei die Veranstalter sich alle Mühe gaben, es nicht beim Reden und Denken zu belassen, sondern auch «interaktive» Elemente einzubauen. So erhielten die rund 60 Anwesenden jeweils ein leeres weisses Buch. Eine Art spirituelles Tagebuch sollte es werden, in dem die Teilnehmenden eigene Gedanken und Fragestellungen notieren konnten. Zur Anregung gab es in der Anlage ein paar provokativ gemeinte Fragen. Zum Beispiel: «Liebe ich Gott?» oder «Weiss mein Partner, meine Partnerin, ob, wann und wie ich bete?»

Wenn er oder sie das nicht weiss, ist das jedenfalls gut reformiert. Denn ein Merkmal zumindest volkskirchlicher reformierter Spiritualität der Gegenwart ist, dass sie sich auf den Intimbereich zurückgezogen hat. Dass sie vor Aussenblicken geschützt werden muss. Dass sie schambehaftet ist, wie es der Theologe Kristian Fechtner in seinem Buch «Diskretes Christentum» erläutert.

Immense Bandbreite
Gegenläufig war da das praktische Experiment. Die Teilnehmenden sollten sich je nach Zustimmung oder Ablehnung zu bestimmten Aussagen im Raum bewegen: «Ich habe Heilige» war eine davon. Oder: «Ich bete mehrmals am Tag.» «Ich habe heilige Orte.» «Ich lese regelmässig die Losungen.» Das spirituelle Innenleben wurde hier ganz unreformiert zur Schau gestellt. Und zeigte damit die immense Bandbreite reformierter Frömmigkeitsformen. Allerdings: So richtig reformiert sind heilige Menschen oder heilige Orte ja wohl nicht.

Oder vielleicht doch? Ist das «anything goes» das eigentliche Merkmal reformierter Spiritualität? Gemeint war es nicht so, das wurde in Zeindlers Beitrag deutlich. Denn die Kernfrage der Reformation war «Wie sieht die rechte Gottesverehrung aus?» Und gab es dann eben auch die absoluten «No-Gos»: Bilderverehrung, Messopfer, bei Zwingli sogar die Musik im Gottesdienst.

Das Risiko der vier Soli
Vier Prinzipien, «soli» genannt, sind grundlegend für den Glauben der Reformatoren: Das Heil wird allein aus Gnade durch Christus gewährt, allein durch Glauben wirksam und allein in der Schrift bezeugt (sola gratia, sola fide, sola scriptura, solus Christus). So berechtigt diese vier Soli in ihrer Zeit dahergekommen sein mögen, so risikobehaftet sei eine verengende Auslegung, so Zeindler.

Dann werde mit dem «sola gratia» die spirituelle Übung als Werkgerechtigkeit abgetan und das «sola scriptura» führe von der Wort- zur Wörterlastigkeit, bei der sogar Gebete zu halben Predigten würden. Richtig verstanden hätten Ausdrucksformen einer genuin reformierten Spiritualität aber immer noch ihren Platz in der heutigen Realität. Die «Ästhetik der Kargheit» (Andreas Marti), die Leere, Nüchternheit, Konzentration auf das Wesentliche als Gegengift zur Reizüberflutung unserer Zeit zum Beispiel.

Aus diesen klar definierten Wurzeln wächst aber gerade, wie es scheint, ein ziemlich unübersichtlicher Urwald. Vom sakralen Tanz über Sitzmeditation bis zum Trancereisen reichen die Angebote. Das ist aber auch schon wieder gut reformiert. Denn ein Merkmal reformierter Spiritualität sei es auch, das sie «offen für Neues» sei, so Zeindler. Also doch «anything goes»? Oder vielleicht noch die Bibel als kriteriologische Richtschnur, wie Zeindler in der Abschlussrunde vorschlug?

Vom Bibeltelefon zum Joggen
Und was meinen die dazu, die mit Spiritualität ihr Brot verdienen? «Spiritualität im Pfarramtsalltag», so der Name des Workshops, ist genauso unbestimmt und vielfältig wie die «reformierte Spiritualität» insgesamt. Von der Sitzmeditation in der Tradition des Zen über Bibeltelefon bis zum Joggen gibt es hier alles. Und ein verbreitetes Unbehagen: «Eigentlich sollte ich in meinem Beruf doch spiritueller sein.»

Aber was will man unter «Spiritualität» überhaupt verstehen? Die Tagung ging einer Definition mit Absicht aus dem Weg. Denn, so Zeindler: «Es gibt über hundert Definitionsversuche von Spiritualität.» Es handele sich um einen «Containerbegriff», der den Vorteil habe, dass man sich trotz Unschärfe darüber verständigen könne.

Ist das jetzt gut reformierte Vagheit? Oder lag es am Thema? Fazit vom ersten Tagungstag: Ein bisschen mehr roter Faden hätte nicht geschadet. Aber vielleicht ist das ja gar nicht reformiert.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: Hat reformierte Spiritualität vor allem mit Büchern zu tun?
Foto: Marianne Weymann/ref.ch

Marianne Weymann / ref.ch / 28. Januar 20128

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