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«Muslime wollen öffentliche Verantwortung übernehmen»

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15.06.2016
Am Montag eröffnete die Universität Freiburg das «Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft». Ein Kompetenzzentrum, das unter anderem Ort der Selbstreflexion für Muslime sein soll, sagt Hansjörg Schmid, Leiter des Zentrums.

Das Zentrum wurde diesen Montag eröffnet. Was bedeutet die Eröffnung für Ihre Arbeit?
Es ist ein symbolischer Akt, eine Anerkennung für das bisher Erarbeitete. Während der letzten eineinhalb Jahre haben wir das Zentrum schrittweise aufgebaut. Was 2015 als Projekt begonnen hat, ist nun das «Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft»: Ein Kompetenzzentrum für aktuelle gesellschaftliche Fragen des Islams in der Schweiz in den Bereichen Forschung, Lehre und Weiterbildung.

Mit was haben Sie sich die letzten fünfzehn Monate beschäftigt?
Wir haben die Rechtsform festgelegt und die Finanzierung gesichert. Wir sind Kooperationen eingegangen, haben den Kontakt zu muslimischen Vereinen, der Politik und Zivilgesellschaft gesucht. Ende 2015 wurden die Statuten vom Senat verabschiedet.

Auf welche Themen werden Sie sich fokussieren?
Unsere Arbeit ist sehr gesellschaftsbezogen – daher ja auch der Name «Zentrum für Islam und Gesellschaft». In einer Bestandesanalyse haben sich fünf Themen herauskristallisiert: Fragen der Kommunikation und des Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen in Gemeinden; Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen; Jugendarbeit; Geschlecht, Körper und Sexualität sowie Prävention und Radikalisierung.

Wie gehen Sie das konkret an?
Ab Herbst 2017 bieten wir ein eigenes Master-Nebenprogramm an. Diesen Herbst stehen Seminare zum Thema «Muslimische Organisationen als gesellschaftliche Akteure» oder «Geschlechterrollen im Islam» auf dem Programm. Weiter haben wir ab September 25 Workshops mit muslimischen Vereinen in der ganzen Schweiz geplant.

Was ist das Ziel solcher Workshops?
Sie sollen die Integration fördern und aufzeigen, was diese Vereine schon alles leisten. Ein weiteres Ziel ist, Kompetenzen zu stärken und zum Aufbau von Netzwerken zwischen unterschiedlichen Institutionen beizutragen. Aber das Angebot unserer Veranstaltungen richtet sich nicht nur an Muslime, sondern an Fachpersonen unterschiedlicher Bereiche und an alle Interessierten. Dass dies funktioniert, erlebten wir etwa bei der im Mai organisierten Tagung «Spitalseelsorge in einer vielfältigen Schweiz». Das Publikum war sehr durchmischt.

Das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen in der Schweiz scheint friedlich. Wieso braucht es ein neues Zentrum?
Es stimmt, dass Muslime hier weitgehend gut integriert sind und das Zusammenleben gut funktioniert. Trotzdem sehen wir einen grossen Diskussionsbedarf in Bezug auf den Islam. Was sicher neu ist an unserem Zentrum: Wir schaffen einen Raum für eine muslimische Selbstreflexion etwa über ethische Fragen oder über Fragen der Schriftauslegung. Wir haben eine Doktorandin, die die Rolle des Menschen im Koran untersucht. Zudem können Muslime bei uns konkrete Antworten suchen, wenn sie sich mit Jugendarbeit oder Seelsorge beschäftigen – beides sind auch in muslimischen Vereinen wichtige Arbeitsfelder. Das soll nicht auf einer rein wissenschaftlichen Ebene, sondern auch ganz praktisch geschehen.

Weisen Muslime in der Schweiz spezielle Merkmale auf?
Beispielsweise beobachten wir eine basisorientierte demokratische Diskussionskultur, wie sie ja in der Schweiz gelebt wird. Zudem organisieren sich Muslime in der Schweiz oft in Vereinen und bilden Dachverbände auf kantonaler Ebene – beides in Entsprechung zum schweizerischen Recht.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Muslime in der Schweiz?
Jede Religion entwickelt sich als Teil der Gesellschaft. Genau wie die Kirchen stellen sich Muslime die Frage: Wo verordnen wir uns in der Gesellschaft? Viele Muslime suchen nach einem positiven Verhältnis zwischen ihren religiösen Traditionen und der Heimat Schweiz. Sie haben hier Freiheit und Wohlstand erhalten und wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben. Ich sehe einen Paradigmenwechsel: Vom Islam in den Hinterhöfen oder Garagen hin zum Islam in der Öffentlichkeit. Muslime wollen öffentliche Verantwortung übernehmen.

Die Ausbildung von Imamen am «Zentrum für Islam und Gesellschaft» sorgte für Aufruhr und zu einer Klage der SVP, die noch beim Bundesgericht hängig ist (s. Infobox unten). Was halten Sie Kritikern entgegen?
Unser Zentrum antwortet auf einen gesellschaftlichen Bedarf. Es arbeitet transparent, dialogisch und steht allen offen. Imame können sich bei uns weiterbilden, nicht aber ausbilden. Dieses Angebot besteht, weil wir Imame als wichtige Schlüsselfiguren für die Integration betrachten. Es beschränkt sich aber nicht nur auf Imame. Wir haben die Zielgruppe ausgeweitet und sprechen beispielsweise auch Frauen an.

Wieso befindet sich das «Zentrum für Islam und Gesellschaft» gerade im katholischen Freiburg?
Verschiedene Argumente sprechen für Freiburg. Die Zweisprachigkeit ist ein Vorteil, weil wir ein schweizweites Kompetenzzentrum sind. Zudem existierten an der Universität Freiburg bereits Kompetenzen, die für unsere Arbeit wichtig sind – beispielsweise das Institut für Religionsrecht, das in der Schweiz einzigartig ist, oder das Institut für Sozialarbeit und Sozialpolitik. Zudem ist die theologische Fakultät für uns von Bedeutung. Das alles bietet eine breite Basis für den Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, der nicht nur religiöse Menschen miteinbezieht, sondern auch solche, für die Religion keine Rolle spielt.

Zur Website des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Nicola Mohler / reformiert. / 15. Juni 2016

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