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Generation «realistisch»

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22.06.2016
Die Jugendforscher rufen die «Generation R» aus: «R» für realistisch und relaxed. So entspannt seien die heutigen Jungen nicht, meint Muriel Koch. In einer grossen Studie zum Konf-Unterricht hat sie den Jugendlichen auf den Zahn gefühlt.

Frau Koch, Sie haben in einer grossen Konfirmandenstudie Jugendliche befragt. Wie beschreiben Sie die heutige Generation?

Die Jugendlichen sind zielorientiert. Die Schule und die Lehre haben in ihrem Alltag einen hohen Stellenwert. Es gibt wenige, die schwänzen, trotz des schulischen Drucks. Einige betreiben Sport. Auch dies intensiv. Viermal pro Woche besuchen sie das Training.

Und im Konfirmationsunterricht?

Da gibt es kaum disziplinarischen Probleme, etwa mit Alkohol im Lager. Wenn man die Jugendlichen fordert, dann bieten sie etwas. Die von ihnen erarbeiteten Beiträge zur Konfirmation sind eindrücklich.

Generation Streber?

Nein keineswegs. Diese Generation ist nicht langweilig, wie man ihr oft vorwirft.

Für was interessieren sich die Jugendlichen?

Im Unterricht sind es Themen wie Flüchtlinge, Medien und altersbedingt Partnerschaft und Fremd- und Selbstwahrnehmung. Die Jugendlichen sind sich bewusst, wie sehr die sozialen Medien ihren Alltag prägen und wie die Bilder und Likes sie beeinflussen.

Und das Religiöse?

Sie wollen die Grundzüge und Wesensmerkmale des Christentums kennenlernen. In der Schule treffen sie Jugendliche anderer Religionen, die ihren Glauben sichtbarer leben. Da fragen sie sich, wie sieht das in meiner eigenen Kirche aus. Sie suchen nach Orientierung.

Apropos soziale Medien. Kommunizieren Sie mit Ihren Konfirmanden via Facebook?

Nein, in einer WhatsApp-Gruppe.

Also digital?

Sicher, das ist praktisch und intensiviert die Beziehung.

Welche Werte sind den Jugendlichen wichtig?

Die heutige Generation ist eher konservativ. Wichtig sind ihr Beziehungen und die Frage der Gerechtigkeit, sowohl im privaten wie im globalen Bereich. Die Familie hat für die heutigen Jugendlichen einen hohen Stellenwert. Der Hintergrund von Trennungen und Scheidungen führt dazu, dass ihnen die gute Beziehung zu Eltern und Geschwistern am Herzen liegt und sie dies auch leben wollen.

Die sexuelle Revolution prägte die Babyboomer und 68er. «Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört zum Establishment», hiess es damals. Wie halten es die Jungen heute etwa mit der Treue?

Jugendliche machen in diesem Alter ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe. Sie finden es nicht gut, nebeneinander verschiedene Beziehungen zu haben. Liebe und Partnerschaft stehen für sie im Vordergrund. Für ihre Konfirmation wählten sie das Thema «Liebe im medialen Zeitalter». Sie interviewten Leute, um herauszufinden, ob diese ihren Partner in der digitalen oder analogen Welt kennengelernt haben.

Was haben sie herausgefunden?

Wenn sich auch die Kommunikations-wege verändern, bleibt das Wesentliche: Auch im Internet muss man mutig sein und den ersten Schritt hin zum anderen wagen.

Welche Träume haben die Konfirmanden?

Einige wollen ins Ausland reisen. Andere mit Tieren arbeiten oder Fussballer werden, vor allem Mädchen. Doch die Jugendlichen bleiben realistisch. Vieles dreht sich um die Lehrstelle oder Matur. Das sind ihre Ziele. Vor allem wenn sie keine Stelle finden.

Was glauben die Konfirmandinnen und Konfirmanden?

In unserer Studie haben wir die Jugendlichen am Anfang des Konf-Jahres, kurz vor der Konfirmation und dann wieder zwei Jahre später befragt. Auf die Frage «glaubst du an Gott?» gaben 51 Prozent der Befragten eine positive Antwort. Im europäischen Vergleich bildet da die Schweiz mit Skandinavien das Schlusslicht. In der Presse machte dieses Ergebnis Schlagzeilen. Doch man muss es relativieren. Die befragten Konfirmanden aus den anderen Ländern sind durchschnittlich zwei Jahre jünger und stehen dem Kinderglauben noch etwas näher. Und Schweizer Jugendliche wollen sich nicht in eine Schublade stecken lassen. Sie wollten nicht besonders fromm erscheinen.

Sie wollten nicht einem Klischee entsprechen?

Ja, die Texte, die sie dazu schrieben, zeigen, wie individuell sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden ausdrücken. Grundsätzlich sind sie gegenüber den Glaubensfragen und der Kirche offen. Wenn Kritik an der Kirche kommt, dann stammt diese meist von ihren Eltern.

Wie sieht es bei der Auferstehung Christi aus?

Nur ein Drittel der Befragten glaubt an die Auferstehung. Einige mehr, dass Gott die Welt geschaffen hat. Der Schöpfungsglaube spricht sie stärker an.

Haben Sie die Ergebnisse der Studie als Pfarrerin ernüchtert?

Nein. Der Glaube ist ein Prozess, der unterschiedliche Phasen durchlebt. Auch die älteren Damen, die regelmässig im Sonntagsgottesdienst sitzen, suchen nach Gott und wollen ihren Glauben, ihre Zweifel und ihre Gefühle nicht in ein Schema drücken lassen. Im Glauben hat es genügend Raum für den Nichtglauben.

Die Umfrage zeigt, dass die Konfirmanden den Unterricht mochten.

Ja. Die Studie zeigte, dass die Jugendlichen mit dem Konf-Jahr überdurchschnittlich zufrieden waren. Über 80 Prozent erlebten dort Spass und Gemeinschaft. Auf dieser positiven Grundlage sollte man aufbauen. Nur geschieht das in den wenigsten Kirchgemeinden. Die Kirche will für alle da sein. Doch im Gemeindealltag ist die Kirche vor allem für jene über 65 da. Das verrät schon allein der Blick in das Kirchgesangbuch. Mit den meisten Liedern können Jugendliche und junge Erwachsene nichts anfangen.

Die Jugendlichen bilden ein riesiges Potenzial, das brach liegt.

Es gibt nur wenige Angebote für Jugendliche nach der Konfirmation, obschon diese die Kirche durchaus positiv sehen. Es fehlen oftmals die Ressourcen. Wenn man die Konfirmanden ziehen lässt, ist dies fatal. Der Kontakt zur Kirche basiert auf langfristigen Beziehungen. Wenn diese abbrechen, fehlt die nächste Generation.

Die Shell-Studie beschreibt die Generation «R» als «realistisch» und «relaxed» (entspannt). Sehen Sie das auch so?

Realistisch ja, entspannt weniger. Heute stehen die Jugendlichen unter Druck, sei es in der Schule, Lehre oder Beruf. Sie sind nicht rebellisch, denn sie wissen, dass sie sich einordnen müssen, um weiterzukommen. Viele Jugendliche wachsen mit dem Bewusstsein auf, in einer unsicheren Zeit zu leben. Schon uns wurde in der Schulzeit mitgeteilt, dass wir vielleicht keine Stelle finden werden. Einen Job zu haben, ist heute nicht selbstverständlich, auch nicht für gut Ausgebildete. Da will man kein Risiko eingehen. In der Familie erleben Jugendliche, wie Ehen zerbrechen. Deshalb suchen sie nach einem stabilen Umfeld, das sie entlastet, sodass sie ihre Leistung bringen können.

In den 68er- und 80er-Jahren protestierten die Jugendlichen auf der Strasse. 

Wenn Jugendliche etwas verändern wollen, dann machen sie das über die sozialen Netzwerke. Dort sind sie aktiv, mit Erfolg, wie ich schon oftmals feststellen konnte.

Zum Schluss: Welchen Wunsch hätten Jungen an die ältere Generation?

Viele Jugendliche wünschen sich, dass man sie ernst nimmt. Beziehungen gelingen dann, wenn man sich füreinander interessiert und ohne Vorurteile begegnet. Jugendliche und Ältere können voneinander viel lernen, wenn sie sich auf Augenhöhe austauschen würden.

Interview: Tilmann Zuber, 21.6.2016

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