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Einzigartige Einblicke ins 17.Jahrhundert

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26.07.2016
Gotteslästerungen und Fluchen, Alkoholexzesse und unerlaubtes Kartenspielen im Wirtshaus, uneheliche Kinder, Gewalt in Haushalten – all das kam vor im alten Stadtstaat Zürich im 17. Jahrhundert. Davon legen die Stillstandsprotokolle Zeugnis ab. Sie sind nun online zugänglich.

 

«Den 12. mejen ist fürgstelt worden Verena Pfister genant Hübsch Vere, wil sy im verdacht war, das sy schwanger, welches ihro fürghalten. Sy hatt aber derfür glaugnet und gott zum zügen gnommen, demme wir es auch heimstellend. Er wird die warheit an tag bringen. ... Umb dise zeit den 3. augsten ist obenbemelte Verena Pfisterin ihres unehlichen kindts geneßen, und wil sy nun Hanßen Pfaffhuseren einen ledigen gsellen für den vatter angeben, als ist er samt ihren zum anderen mal, ehe sy gnesen, vor ehegricht gsin.»

«Sonsten sind in dißer monatszeit underschiedliche fluchhendel und schlegereyen entstanden ... Gott erbarm sich über die, die auch nach eines ehrlichen sinns und gmüths sind, aber wie dünn sind die gsäyet. Das gantze haupt ist kranck.»

 

Alltag anno dazumal

Willkommen mitten im Alltag des 17.Jahrhunderts, wie er in diesen zwei Texten auf einzigartige Weise lebendig wird. Die Texte sind akkurat abgefasste Schilderungen von Episoden, die sich in den Dörfern und der Stadt Zürich vor knapp 400 Jahren abgespielt haben. Sie handeln von den Freuden und Sorgen der Männer und Frauen jener Zeit und geben so einen faszinierenden Einblick in die Lebenswelt der Bevölkerung auf der Zürcher Landschaft und in der Stadt Zürich von damals. Der erste Text aus der Gemeinde Wangen im Jahr 1640 handelt von einer «leichtfertigen» jungen Frau, die ein Kind erwartete, einen ledigen Gesellen als Vater bezichtigte und deshalb vor ein Ehegericht gestellt wurde. Der zweite Text zeugt davon, wie verzweifelt sich der Pfarrer von Fällanden 1678 über den moralischen Zustand seiner Gemeinde äusserte, in der Fluchen und Schlägereien offenbar weitverbreitet waren.

Die Texte stammen aus so genannten Stillstandprotokollen, wie sie damals in reformierten zürcherischen Kirchgemeinden von den Pfarrern geschrieben wurden. Der Begriff Stillstand kommt daher, dass die Mitglieder dieser ältesten Aufsichtsbehörden der reformierten Kirchgemeinden nach dem Gottesdienst in der Kirche wortwörtlich «stillstanden», um monatlich unter dem Vorsitz des Pfarrers zu beraten. Dieses Gremium, dem neben dem Pfarrer auch ein Untervogt, höhere Dorfbeamte und von der Gemeinde gewählte Ehegaumer (Ehehüter) angehörten, war Kirchen-, Schul-, Armen- und Vormundschaftsbehörde und Sittenwächter zugleich. Aus ihnen entstand in späterer Zeit die heutigen Kirchenpflegen – allerdings mit wesentlich eingeschränkteren Befugnissen. Der Stillstand setzte sich mit Fällen von Armut, häuslicher Gewalt, unerlaubtem ­ sprich vorehelichem Geschlechtsverkehr –, mit Alkoholexzessen, nächtlicher Ruhestörung und vielen weiteren Verstössen gegen die geltenden Moralvorstellungen auseinander.   

 

35 Kirchgemeinden

All diese Protokolle, aus 35 Kirchgemeinden in der Stadt Zürich und der Landschaft, sind zwischen 1631 und 1700 von Pfarrern (damals ausschliesslich Männer) von Hand geschrieben worden. Rund 3400 Seiten Originaltext hat das Staatsarchiv Zürich in den vergangenen fünf Jahren transkribieren lassen. Das Projekt wird von der Evangelisch-reformierten Landeskirche und dem Staatsarchiv gemeinsam getragen und ist mit Mitteln aus dem Lotteriefonds finanziert worden. In den vergangen fünf Jahren hat der freischaffende Historiker Beat Frei aus Horgen die riesige Textmenge bearbeitet. Die Hauptschwierigkeit für ihn war, die mit jedem neuen Pfarrer wechselnde Handschrift Wort für Wort zu entziffern. Zur Bearbeitung musste er immer wieder auf das Idiotikon zurückgreifen, um all die Begriffe zu verstehen.

Die Stillstandsprotokolle eröffnen nicht nur faszinierende Einblicke, wie sich das Leben der Menschen früher abgespielt hat. In ihrer Detailfülle liefern sie auch wertvolle Informationen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im 17. Jahrhundert. Nun stehen sie, in geordneter Form online zur Verfügung und können, geordnet nach den einzelnen Kirchgemeinden, abgerufen werden.

www.archives-quickaccess.ch/search/4

Stefan Schneiter / reformiert.info / 25. Juli 2016

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