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«In den Medien wird ein Kampf der Kulturen beschworen»

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01.09.2016
Habit, Kippa, Turban, Schleier: Religiöse Kleidung zieht im Alltag Aufmerksamkeit auf sich. Ethnologin Jacqueline Grigo erklärt im Gespräch, wieso gerade die islamische Kleidung so viel Zündstoff birgt und wieso Beschimpfungen im öffentlichen Raum gegen eine Ordensschwester auch die Forscherin erstaunt haben.

Wer sich religiös kleidet, fällt auf. Egal ob orthodoxe Juden, evangelische Taufgesinnte, Nonnen oder buddhistische Mönche – wieso zieht gerade die islamische Kleidung so viel Aufmerksamkeit auf sich?
Wie verschiedene Untersuchungen zeigen, ist die Berichterstattung über religiöse Themen in der Schweiz stark durch Wertungen geprägt. Während Christentum, Judentum und ihre Vertreterinnen sowohl positiv als auch negativ beurteilt werden, gilt der Buddhismus als generell friedlich, gewaltfrei, offen, tolerant und undogmatisch. Beim Islam überwiegen dagegen negative Beurteilungen, und die Religion wird in den Medien mehrheitlich im Zusammenhang mit Politik, Konflikt oder Terrorismus thematisiert.

Wie erklären Sie diese polarisierenden Meldungen?
Diese lassen sich unter anderem auf die sensationsheischende Darstellungslogik der Medien zurückführen, die dadurch islamophobe Tendenzen und Fremdenfeindlichkeit schürt. Medial wird ein «Kampf der Kulturen» beschworen, in dem der Schleier zum Symbol unvereinbarer Werte stilisiert wird. Islamische Kleidungspraxis wird generell ideologisch stark aufgeladen und verkörpert in der Deutung einer wachsenden Mehrheit das Gegenteil dessen, was unsere Gesellschaft zu sein anstrebt: frei, gleichberechtigt, sicher und gerecht. Muslimisch-weibliche Kleidung steht demgegenüber oft unhinterfragt und wenig differenziert für Fremdbestimmung, Ungleichheit, Gewaltbereitschaft und Unterdrückung. Sie dient als Projektionsfläche, auf der gesellschaftliche Umgangsweisen mit kultureller Diversität verhandelt und die Umrisse einer eigenen Identität geschärft werden.

Widerspricht die derzeitige Debatte nicht der Entwicklung unserer Gesellschaft, die immer vielfältiger wird?
Wir meinen in einer homogenen Mehrheitskultur zu leben, in der alle die gleichen Werte haben. Aber das stimmt schon lange nicht mehr. Unsere Gesellschaft erfährt kulturelle und religiöse Pluralisierung und Individualisierung. Das erfordert von jedem Einzelnen die Fähigkeit, mit Vielfalt, Mehrdeutigkeit und Wandel umzugehen. Dies sehe ich als eine der zentralen Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben.

Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit religiöser Kleidung im Alltag beschäftigt. Hat sichtbar gelebter Glaube heute überhaupt noch Platz?
Die säkularisierte Gesellschaft fühlt sich durch religiöse Kleidung im öffentlichen Raum irritiert. Sie verbindet diese gemeinhin mit fehlender Selbstbestimmung, Rückständigkeit, gesellschaftlicher Abschottung und ästhetischem Desinteresse. Religiosität, so eine verbreitete Meinung, ist Privatsache und sollte nicht öffentlich zur Schau gestellt werden. Lange nahm man an, Religion werde mit der Zeit zwangsläufig aus dem modernen, aufgeklärten Europa verschwinden. In jüngster Zeit wird aber eine Rückkehr der Religion beobachtet, die auch sichtbar erfahrbar ist.

Welche Funktion kommt religiöser Kleidung heute zu?
Die möglichen Funktionen religiöser Kleidung sind vielfältig. Welche Funktion ihr in einer konkreten Situation zukommt, hängt von den einzelnen Gemeinschaften und Akteuren ab, aber auch vom gesellschaftlichen und politischen Kontext. Über religiöse Kleidung manifestieren sich Zugehörigkeit und Identität, aber auch Ab- und Ausgrenzung. Sie beeinflusst die Beziehung der Trägerinnen und Träger zur sozialen und zur transzendenten Umwelt. Religiöse Kleidung kann der Kontrolle und Unterordnung von Individuen dienen oder der populistischen Instrumentalisierung politischer Ziele.

Sie haben über zwanzig gläubige Menschen für längere Zeit begleitet. Wie interpretieren Gläubige selber ihre Kleidung?
Die individuellen Deutungen und Begründungen zum Tragen der religiösen Kleidung sind sehr unterschiedlich. Für den befragten buddhistischen Mönch bedeutet die Robe beispielsweise eine Unterstützung in der spirituellen Entfaltung. Sie erinnert ihn täglich an die Einhaltung der Gelübde, was eine Voraussetzung für die geistige Entwicklung darstellt. Eine Muslimin erhofft sich durch das Tragen eines Kopftuches eine vorteilhafte Jenseitsexistenz. Für den Sikh sind ungeschnittene Haare und der Turban ein Zeichen für seine Ehrerbietung vor Gott, die katholische Nonne drückt mit ihrem Habit ihre Verbundenheit mit der klösterlichen Gemeinschaft aus. Auffällig ist, dass aus der Aussenperspektive religiöse Kleidung vornehmlich als Zeichen von Abgrenzung und Abschottung wahrgenommen wird, während die Trägerinnen selbst diesem Aspekt kaum eine Bedeutung beimessen.

Wie nehmen religiös gekleidete Menschen die Reaktionen der Umwelt wahr?
Sie machen sehr unterschiedliche Erfahrungen. Viele berichten von Diskriminierungserfahrungen, die sie auf ihre Kleidungspraxis zurückführen: seien es tätliche Übergriffe, Beschimpfung, Spott oder der Ausschluss vom Wohnungs- oder Arbeitsmarkt. Bei einigen führt dies zum Rückzug aus der Öffentlichkeit. Andere machen den Schritt nach vorne und suchen explizit das Gespräch mit Nicht- und Andersreligiösen, um gängigen Vorurteilen entgegenzuwirken. Die religiös gekleideten Menschen erzählen aber auch von positiven Erlebnissen mit der sozialen Umwelt. Manche Leute seien interessiert und stellten Fragen.

Beeinflussen diese Reaktionen die Religiosität der Menschen, die sich religiös kleiden?
Ja. Die Reaktionen der Umwelt können zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der eigenen Religiosität führen. Bei manchen hat dies eine verstärkte Hinwendung zur Religion zur Folge. Bei anderen führen diese Auseinandersetzungen zu neuen Interpretationen von Glaubensinhalten, sodass sich diese besser mit gängigen Anschauungen und gesellschaftlichen Ansprüchen vereinbaren lassen.

Sie haben auch eine Ordensschwester im schwarzen Habit begleitet. Verbale Angriffe, Spott, abschätzige Bemerkungen, Beleidigungen, offene Beschimpfungen, Drohungen gehörten zu den negativen Erfahrungen im öffentlichen Raum. Hat Sie das erstaunt?
Ja. Da die Ordensschwestern ja seit langem ein Teil der schweizerischen religiösen Tradition sind und sich in der Öffentlichkeit zum Teil auch sozial engagieren, war ich davon ausgegangen, dass sie in der Öffentlichkeit nicht auf Probleme stossen würden. Allerdings sind sie, wie es eine Ordensfrau selbst beschreibt, «aus der Zeit gefallen» und fühlen sich in ihrer Tracht mitunter als «Exotinnen». Manche Orden erlauben ihren Gemeinschaftsmitgliedern, sich ausserhalb des Klosters zivil zu kleiden. Während die Tracht bei älteren Menschen noch immer eher Vertrauen weckt, wirkt sie auf Jüngere zuweilen befremdlich.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Nicola Mohler / reformiert. / 1. September 2016

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