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Wie ein dahergelaufener Toggenburger die Welt veränderte

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07.10.2016
Zwingli ein Spätrenaissance-Mensch, Luther manisch-depressiv: An einem NZZ-Podium diskutierten der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller und die Historiker Peter Opitz und André Holenstein über die Strahlkraft der Reformatoren.

«Was feiern wir eigentlich beim Reformationsjubiläum?», wollte Moderator Martin Beglinger, Redaktor von «NZZ-Geschichte», einleitend wissen. «Die Reformation gehört allen», meinte der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller, «die Prozesse und Inhalte wirken bis heute und gehen über die real existierende Kirche hinaus. Dafür möchten wir das Bewusstsein aktualisieren.» Für den Reformationshistoriker Peter Opitz geht es ums Erinnern an die theologischen Erkenntnisse, die damals wieder ans Licht kamen. Speziell mit Zwingli laute die reformierte Botschaft «Gemeinnutz vor Eigennutz».

Zwei reformierte Hotspots
«Dank des Jubiläums merkt die Gesellschaft, warum es Historiker braucht», flachste der Berner Historiker André Holenstein. Und ergänzte ernsthaft: «Die Schweizer Reformation hat der Welt die reformatorischen Hotspots Zürich und Genf geschenkt, mit Nachwirkungen bis heute in den Niederlanden, Grossbritannien und den USA.»

«Und wie war Zwingli so als Mensch?», holte Beglinger die Runde in menschliche Dimensionen herunter. «Engagiert, lebendig, offen, vielseitig, ein humanistischer Spätrenaissance-Mensch», so Müller, «der späte Zwingli war allerdings apokalyptisch-verkrampft, es fand eine Verengung statt.» Holenstein wunderte sich, wie der «dahergelaufene Toggenburger Zwingli» in Zürich in so kurzer Zeit so viel verändern konnte. «Er hatte Charisma und einen Machtinstinkt, wurde aber zum fundamentalistischen Eiferer und ging damit in den Tod», so Holenstein.

Fundamentalistischer Zwingli?
Worauf Opitz einwarf, das Wort «fundamentalistisch» sei für diese Zeit nicht angebracht, wenn schon sei Zwingli «drängend» gewesen, denn auch auf der anderen Seite ging es um Leben und Tod, die katholische Kirche pflegte Ketzer wie Zwingli zu verbrennen. Er habe sich als Propheten gesehen, war mutig, hartnäckig und bereit, für seine Ideen zu sterben.

Allerdings habe der Rat von Zürich die Reformation eingeführt, Zwingli sei nur Ideengeber gewesen. Gemäss Müller war Zwinglis Fundament die Bibel, insofern sei er tatsächlich fundamentalistisch, aber aus heutiger Sicht auch naiv gewesen: «Mit der Bibel kann man ja alles beweisen, wirklich alles.»

Und warum war gerade Zürich ein Reformations-Hotspot? Gemäss Holenstein ein Zufall: «Zürich berief ihn als Leutpriester, das hätte auch eine andere Stadt tun können.» Müller war sich da nicht so sicher: «St. Gallen hatte einen Abt, Basel einen Bischof, Bern war viel feudaler strukturiert. Äbte und Bischöfe sind noch heute weit weg von Zürich, und die Zürcher Katholiken sind die reformiertesten der Schweiz.»

Alt Bundesrat im Publikum
Das Publikum lauschte gerne diesem unterhaltenden und gepflegten Austausch. Unter den rund 100 Gästen hörte auch Alt Bundesrat Samuel Schmid, wie Beglinger auf die unvermeidliche These von Max Weber zu sprechen kam. Gemäss dieser ist das protestantische Arbeitsethos für die Entstehung und Ausbreitung des Kapitalimus verantwortlich.

In dieser Absolutheit ist die These zwar längst widerlegt, trotzdem war sich die Runde einig, dass etwas dran ist. «Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden sind topographisch vergleichbar. Innerrhoden ist aber katholisch und nicht industrialisiert, das reformierte Ausserrhoden dagegen sehr.» Auch Opitz sah einen Zusammenhang: «Die Reformierten haben einen Zug zur Welt, sind zweckrational, sie wollen gestalten, und das kann zur Prosperität führen.»

Müller sah immer noch unterschiedliche Einstellungen zur Wirtschaft am Werk: «Welche Kantone betreiben Steuerdumping, welche wirtschaften aus sich heraus und besteuern Unternehmen entsprechend?» Der Antagonismus zwischen Schwyz und Zürich bestehe noch heute und sei sicher auch konfessionell überlagert. Holenstein entgegnete: «Man muss es sich auch leisten können, auf das Söldnerwesen zu verzichten.»

Luther versus Zwingli
Beglinger nahm nach eineinhalb Stunden die Schlusskurve und kam auf den Titel der Veranstaltung zu sprechen: «War Zwingli wichtiger als Luther?» Bejahen wollte das niemand. Müller wies nach, dass es weder die Lutheraner ohne die Reformierten noch diese ohne die Lutheraner gäbe. «Jeder hat seine Rolle, aber Luther war sicher der Funken ins Pulverfass», meinte Opitz.

Und Holenstein erinnerte an den dritten Player, Calvin, der die Reformation in Genf, dem «Headquarter eines expansiven Protestantismus», erst zur globalen Bewegung machte. «Aber Calvin hätte es ohne die Berner Reformation nicht gegeben, und diese nicht ohne Zwingli», warf Müller ein. Einverstanden waren alle, dass Zürich nach dem Tod Bullingers «verprovinzialisierte», während Genf durchstartete.

«Im Kreis von Schweizern»
Über Luther war wenig Vorteilhaftes zu hören. «Die letzten 20 Jahre von Luther müsste man streichen, er hat zu lange gelebt», sagte Müller, er sei in den letzten Jahren nur noch manisch-depressiv gewesen. Aus der Reformation hätte etwas anderes werden können, wenn statt Luther Melanchthon mit Bullinger und Calvin zu tun gehabt hätte. Und Opitz erinnerte daran, dass für Luther die Reformierten Ketzer waren. Vor seinem Tod soll er gesagt haben: «Wohl dem, der nicht im Kreis von Schweizern sitzt.»

Und wenn Zwingli heute unter uns wäre? «Zwingli würde sich ärgern, dass die Innerschweizer immer noch katholisch sind», meinte Holenstein, «und er würde jetzt zum Apéro gehen.»

Matthias Böhni / ref.ch

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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