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Religion und Atheismus – Was ist denn infantil?

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19.10.2016
Religion sei infantiler Aberglaube, schrieb der Autor Claude Cueni kürzlich. Der Theologe Klaus Bäumlin spielt den Ball zurück.

«Religion ist infantiler Aberglaube und gehört nicht in eine Verfassung des 21. Jahrhunderts»: Unter diesem Titel schrieb der Autor Claude Cueni für das Nachrichten-Portal watson.ch eine eigentliche Abrechnung mit den Religionen im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen.

Die Bitte um eine Replik lehnte ein erster angefragter Pfarrer ab: Zu schlecht und nicht reaktionswürdig befand er den Text. Ein zweiter sah es nicht viel anders – trotzdem ist der Pfarrer und Theologe Klaus Bäumlin auf Anfrage darauf eingegangen. Nachfolgend seine Entgegnung.

Undifferenzierte Weise
Claude Cueni bietet das ganze, längst bekannte Arsenal trivialer atheistischer Religionskritik. Er tut das auf eine völlig undifferenzierte Weise. Religionen sind ein sehr ambivalentes Phänomen. Das gilt auch für das Christentum.

Ja, Kirchen liessen sich oft missbrauchen zur Legitimierung weltlicher Macht, sie waren beteiligt an Unterdrückung und Verfolgung Andersgläubiger. Ja, ihre Botschaft ist oft verkommen zur Drohbotschaft, die die Leute eingeschüchtert und entmündigt hat.

Aber der christliche Glaube ist von Unzähligen als Befreiung erfahren worden, als Ermündigung und Ermächtigung zu einem selbstbewussten und solidarischen Denken und Leben. Er hat sie ihre Menschenwürde entdecken lassen. Und er hat Unzählige zu allen Zeiten ermutigt, für Gerechtigkeit und Frieden und gegen staatliche Willkür und Diktatur einzustehen und ihr Leben dabei zu riskieren.

Verständnisvoller Marx
Da war denn doch der Materialist und Atheist Karl Marx verständnisvoller und differenzierter mit seinem Urteil. «Religion ist Opium des Volkes», hat er geschrieben.

Aber gleich zuvor stehen die Sätze: «Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt.»

Das sind Sätze, über die man nicht genug nachdenken und diskutieren kann. Es ist doch etwas anderes als die polemische Behauptung, Religion sei infantiler Aberglaube.

Kritisch überarbeitet ist nicht kopiert
Das Christentum sei eine kopierte Religion, die aus alten Mythen historische Wahrheiten mache, behauptet Cueni. In der Tat haben manche Texte des Alten Testaments babylonische und ägyptische Mythen aufgenommen – was nebenbei zeigt, dass ihre Verfasser keine Dummköpfe, sondern mit der Literatur ihrer Zeit und Umwelt vertraut waren.

Aber sie haben sie selbständig und kritisch überarbeitet. So haben sie zum Beispiel den berühmten wundervollen Sonnengesang Echnatons neu geschrieben: Nicht die Sonne, sondern Gott, der Schöpfer und Erhalter von Himmel und Erde, war für sie Gegenstand von Liebe und Verehrung. So ist der ebenfalls wundervolle Psalm 104 entstanden.

Nicht Wissen, sondern Weisheit
Die Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel des ersten Mosebuches ist ein solcher Mythos. Er dient manchen Religionskritikern oft als Paradebeispiel, das beweisen soll, dass christlicher – und jüdischer – Glaube unvereinbar sei mit den Naturwissenschaften.

Doch sie will ja gar nicht Wissen vermitteln, sondern zur Weisheit und zur Ehrfurcht vor dem Leben anleiten. Die biblischen Erzählungen vom Paradies, vom sogenannten «Sündenfall», vom Totschlag Kains an seinem Bruder Abel, von der Sinflut und vom Turmbau zu Babel sind nicht primitive Legenden. Sie wollen in der Form von Sagen und aufgrund von Erfahrungen die condition humaine darstellen und zeigen, wie wir Menschen dran sind.

Bildung damals – und heute
«Ich weiss, dass heilige Schriften von Männern geschrieben wurden, die nicht einmal die Allgemeinbildung heutiger Schulabgänger hatten», lautet ein Bekenntnis von Claude Cueni. Da fragt man sich denn schon, wie es um seine eigene Allgemeinbildung steht, wenn er einen derart unhistorischen Vergleich anstellt.

Natürlich konnten antike Schriftsteller vor 2000 Jahren vieles nicht wissen, was zu unserer Bildung gehört. Aber sie haben am Wissen ihrer Zeit teilgenommen. Man braucht nur etwa die Evangelien von Markus und Lukas zu lesen, um zu sehen, wie literarisch und politisch gebildet solche Autoren waren.

Gehör für die Sprache
Die Figur Jesus sei ein Plagiat, behauptet Cueni. Dagegen schreibt der Agnostiker Emmanuel Carrère in seinem kürzlich erschienenen Buch «Das Reich Gottes», es sei die von den Evangelien überlieferte Sprache Jesu, die ihn von seiner Existenz überzeuge. Sie kenne in der Geschichte keine Parallele, «es ist diese sprachliche Einmaligkeit, die für denjenigen, der ein wenig Gehör dafür besitzt, keinen Zweifel lässt, dass dieser Mensch gelebt und so gesprochen hat.»

Man braucht ja nicht gleich zu glauben, dass Jesus der «Sohn Gottes» ist, doch die Vollmacht, die in seiner Sprache ist, lässt sich kaum verkennen. Cueni fehlt offensichtlich das Gehör dafür. Umso mehr empfehle ich die Lektüre des grossen Buches des Agnostikers Carrère.

Warum denn diffamieren?
Abschliessend schreibt Cueni: «Eine Gesellschaft braucht für ihr Bestehen ohne Zweifel Gemeinsamkeiten, Rituale. Im 21. Jahrhundert sind das in der freien Welt: eine gemeinsame Ethik, Menschenrechte, Empathie für sozial Schwache und eine anständige Lebensführung, in der man anderen nicht antut, was man selber nicht erleiden möchte.»

Schön und gut gesagt! Weshalb denn diese pauschale Verunglimpfung und Diffamierung der Religion, die so vielen Menschen Antrieb ist für genau das, was Cueni für unentbehrlich hält für das Bestehen der Gesellschaft?

Warum sollten sich Atheisten, Agnostiker und Christen nicht gegenseitig achten und sich darüber freuen, wenn sie sich für dieselben gesellschaftlichen Werte und Ziele einsetzen, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Motive?

Warum denn Religion gleich als infantilen Aberglauben denunzieren, statt sie als immerhin mögliche Partnerin im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden wahrzunehmen?

Infantil ist es doch eher, Religion pauschal als grösste Betrugsgeschichte der Menschheit darzustellen.

Der Artikel von Claude Cueni ist hier nachzulesen.

Klaus Bäumlin für reformiert.info / 19. Oktober 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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