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«Es war falsch»

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20.10.2016
Am Montag lief bei SRF der Film «Terror – Ihr Urteil». 84 Prozent der Zuschauer hiessen es in der anschliessenden «Arena» gut, dass der Pilot die von Terroristen entführte Passagiermaschine abschoss. Für Ethiker Frank Mathwig ist dieses Urteil falsch.

Herr Mathwig, die Mehrheit des Publikums hat entschieden, dass ein Kampfpilot ein entführtes Flugzeug eigenmächtig abschiessen darf, wenn es eine Bedrohung für andere darstellt. Sind sie damit einverstanden?
Rechtlich ist es falsch, moralisch kann ich die Meinung der Zuschauer nachvollziehen. Doch weil ich manchmal fliege, beunruhigt mich diese Haltung ein wenig.

Warum?
Aus zwei Gründen: Erstens werden mir meine Schutzrechte sowohl von den Terroristen wie auch vom Rechtsstaat, abgesprochen. Und zweitens möchte ich nicht in einer Gesellschaft von Dirty Harrys leben, die das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Der Pilot hat sich nicht nur zum Richter in eigener Sache gemacht, sondern auch zum Gesetzgeber für sein Handeln. Seine Motive mögen ehrenwert sein, aber sein Handeln entspricht dem eines Westernhelden.

Hat nicht der Theologe Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik dazu aufgerufen, dem Wagen in die Speichen zu fallen, um zu verhindern, dass er ein Kind überfährt? Er formulierte doch das Recht, eigenmächtig Widerstand zu leisten?
Das Argument ist gefährlich und geht völlig daneben. Bonhoeffer formuliert seine Gedanken über den Tyrannenmord nicht im demokratischen Rechtsstaat, sondern in dem brutalen Unrechtsregime der Nazis. In seiner Schrift «Die Kirche vor der Judenfrage» (1933) nennt Bonhoeffer zwei politische Entwicklungen, die die Kirche zum Widerspruch nötigen: Erstens, wenn im Staat zu wenig Ordnung, also Anarchie, herrscht. Und zweitens, wenn der Staat seine Ordnungsmacht repressiv übersteigert und missbraucht, indem er die Freiheiten seiner Bürgerinnen und Bürger willkürlich einschränkt.

Das fiktive Beispiel des TV-Films «Terror» ist längst Realität. Die USA töten im Nahen Osten mit ihren Drohnen angebliche Terroristen und Unschuldige und verteidigen die Kollateralschäden mit dem grösseren Nutzen.
Dahinter steht der Musterfall der antiken Tragödie: egal wie ich mich entscheide, ich wähle stets ein Übel. Aus utilitaristischer Sicht mögen Opfervergleiche akzeptabel erscheinen. Man opfert lieber wenige Menschen, um das Leben von Tausenden nicht zu riskieren. Die starke Zustimmung der Bevölkerung zu einer solchen Rechnung beruht auf der Intuition, dass es moralisch richtig sei, wenn man das Unglück möglichst klein hält. Doch was für Gegenstände gilt, gilt nicht für Menschen. Die Menschenrechte und der Rechtsstaat garantieren jedem Menschen die gleichen Rechte und den gleichen Schutz für sein Leben.

In «Terror – Ihr Urteil» zählt das Leben der Flugzeugpassagiere nur deshalb weniger, weil ihre Anzahl viel kleiner ist, als die Menschenmenge im Stadion.
Ja. Die Logik dahinter lautet: Im Notfall zählen die Leben der Menschen, die zu einer Minderheit gehören, weniger als die Leben derjenigen, die die Mehrheit ausmachen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der nur die Menschen, die zur Mehrheit gehören, sich ihrer Schutzrechte sicher sein können? Individuelle Leben können nicht gegeneinander aufgerechnet werden, denn jeder Mensch hat nur sein eigenes und einziges, das absolut zählt, so wie das Leben jeder anderen Person.

Hätte Jesus das Flugzeug abgeschossen, wenn er im Kampfjet gesessen wäre?
Ich kann mir Jesus nicht in einem Kampfjet vorstellen. Nein, Jesus hätte nicht auf den Knopf gedrückt. Er hat nicht einmal bei seiner Verhaftung im Garten Gethsemane zugelassen, dass seine Jünger Gewalt anwenden, um sein Leben zu retten.

Frank Mathwig ist Beauftragter für Theologie und Ethik beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund.

Interview: Tilmann Zuber / Kirchenbote / 20. Oktober 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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