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«Kinder spüren weit mehr, wie es um sie steht, als Erwachsene vermuten»

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25.10.2016
Das Sterben von Kindern macht sprach- und fassunglos. Was kann man in dieser Situation tun? Was lässt sich sagen? Philipp Aebi, Seelsorger am Luzerner Kinderspital, nimmt zu wichtigen Fragen Stellung.

Wollen Kinder wissen, was der Tod ist, was Sterben heisst?

Als mein Sohn fünf Jahr alt war, fuhr er mit seiner 88-jährigen Urgrossmutter in einer Gondel aufs Rothorn. Er fragte sie laut: «Urgrossmutter, du musst sicher bald sterben, oder?» Es wurde ganz still in der Gondel. Alle wollten dem Gespräch der beiden lauschen. Die Urgrossmutter antwortete: «Ja, wir müssen alle einmal sterben, wann das ist, wissen wir aber nicht so genau.» Darauf sagte der Junior nach einem Moment des Nachdenkens: «Gäll, dann siehst du ihn.» Damit meinte er Gott, an den die 88-Jährige zeitlebens glaubte. Dieses Beispiel zeigt, wie schon kleine Kinder etwas davon spüren, dass es einen endgültigen Tod gibt. Das kann ihnen Angst machen. Darum wollen sie Antworten.

Merken Kinder und Jugendliche, wie es um ihre Gesundheit steht?

Kinder spüren weit mehr, wie es um sie steht, als Erwachsene vermuten. Sie lesen es in den Gesichtern der Eltern, der Ärzte, der Pflegenden und erkennen es sogar in der Mimik des Reinigungspersonals. Ein krankes Kind – und auch seine Geschwister – wollen wissen, was passiert. Sie brauchen altersgerechte Informationen zu Krankheit und Diagnose. Denn Unwissenheit schürt unnötige Fantasien und Ängste. Ein Knabe winkte mir vor einem operativen Eingriff mit den Worten zu: «Jetzt gilt es sehr ernst.» Er wusste aus dem Gespräch mit dem Arzt um seine lebensbedrohliche Krankheit und, dass er daran sterben konnte.

Ist es gut, Kinder vor der Diagnose schonen zu wollen?

Ehrlichkeit scheint mir im Umgang mit dem Sterben und dem Tod grundsätzlich die wichtigste Währung zu sein. Noch vor einigen Jahrzehnten klärten Ärzte und die Familie Kinder nicht über die Diagnose auf. Das Sprechen über die Themen Sterben und Tod war ein Tabu. Kinder wurden konsequent belogen. Heute ist das anders.

Es ist für viele Eltern schwierig, das, was die Kinder meist schon ahnen oder wissen, anzusprechen. Sie möchten nicht die Hoffnung zunichte machen auf eine Heilung oder gar auf ein Wunder. In einer schwedischen Untersuchung gab ein Drittel der 500 befragten Eltern an, dass sie es im Nachhinein sehr bereut hätten, nicht mit ihrem krebskranken Kind über den Tod gesprochen zu haben. Weiter zeigten Untersuchungen, dass das Sprechen über den Tod bei Kindern nicht Angst auslöst. Bei Kindern geht es meist nicht um die Angst vor dem Tod, sondern letztlich vielmehr um Verlustängste: Sie wollen nicht ihre Eltern und Geschwister verlieren. Das ist normal.

Welche Rolle spielen Eltern und Geschwister in so einer Situation?

Die Familie wird durch die Krankheit ihres Kindes in den Grundfesten erschüttert. Wie bei einem Erdbeben. Für die Kinder und Jugendliche ist gerade in dieser Situation das familiäre Netz wichtig. Die Sorge für ihr schwer erkranktes Kind stellt die Familien vor umfassende Herausforderungen. Auch organisatorischer Natur. Da ist die Präsenz der Bezugspersonen für das betroffene Kind zentral. Sie geben Sicherheit und Geborgenheit. Neben den Eltern sind es oft auch Grosseltern, Götti, Gotte und andere.

Eltern und Angehörige unterstützen ihr krankes Kind oft kreativ und vielfältig: Eine Mutter massiert ihrem Kind liebevoll die Füs-se. Ein Vater liest dem kranken Sohn aus Karl Mays «Winnetou» vor. Oft übernachten Mutter oder Vater bei ihrem Kind im Spital. Blosses Dasein der Eltern ist für das Kind wichtig. Sie müssen nicht immer was tun.

Wie soll man mit den betroffenen Geschwistern umgehen?

Wesentlich ist, dass die gesunden Geschwister spezielle Zuwendung und Aufmerksamkeit erhalten. Sie sollen auf keinen Fall zu Schattenkindern werden. Die meisten erhalten die nötige Fürsorge und fühlen sich doch oft einsam und allein. Es ist wichtig, ihren Seelenschmerz wahrzunehmen und diesen zu thematisieren. Ich habe auch schon erlebt, dass ein Geschwister eines verstorbenen Kindes einige Monate nach dessen Tod hospitalisiert werden musste. Es hatte den Verlust nicht verkraftet und wurde selber krank. 

Wie erklärt man einem Kind, dass es sterben muss?

Diese Situation erlebe ich so konkret eher selten. In der Regel informieren die Ärzte das Kind und seine Eltern über eine lebensbedrohliche Krankheit. Als Seelsorger versuche ich im Gespräch mit dem Kind und seinen Eltern das aufzunehmen, was im Moment bewegt. Ich bringe einige Bilderbücher mit, in denen die Themen Sterben, Tod und Abschied vorkommen. Manchmal nehme ich Sonnenblumenkerne mit zur Veranschaulichung und in Anlehnung an das biblische Bild des Weizenkorns. Das muss ja in die Erde gelegt werden und sterben, damit eine neue Ähre wachsen kann.

Ein anderes hilfreiches Bild ist die Geschichte der Raupe. Sie spinnt sich im Kokon ein. Wie durch ein Wunder schlüpft dann ein prachtvoller Schmetterling aus dem Kokon. Der Schmetterling wirft die alte Hülle ab, weil er sie nicht mehr braucht. Er ist frei und kann davonfliegen. So können wir uns vorstellen, dass wir unser altes Raupenleben eines Tages nicht mehr benötigen. Wir schlüpfen dann in ein «Schmetterlingsleben», ganz in der Nähe bei Gott.

Wie leben Kinder und Jugendliche damit, bald sterben zu müssen?

Wenn Kinder wissen, dass sie bald sterben müssen, bedeutet das nicht, dass sie keine Hoffnungen, keine Wünsche und keine Träume mehr haben. Klar sind sie manchmal sehr traurig, weinen und haben grosse Schmerzen. Doch sie wollen entsprechend ihren Möglichkeiten und Kräften am Leben teilnehmen.

Ein junges Mädchen, das schwer an Krebs erkrankt war, erzählte mir von seinen beruflichen Träumen, von der geplanten Lehre als Detailhandelsverkäuferin. Es wollte sich nicht dauernd mit dem Thema Sterben und Tod beschäftigen, sondern mit dem Leben und seiner Zukunft. Tatsächlich besiegte es den Krebs wie durch ein Wunder viele Monate später.

Stiftungen wie «make-a-wish», «Wunderlampe» oder «Sternschnuppe» ermöglichen Kindern von 3 bis 18 Jahren die Erfüllung eines bestimmten Wunsches. Einst schilderte mir ein schwer kranker neunjähriger Bub mit leuchtenden Augen, wie er zusammen mit seinem Vater auf der Drehleiter eines Feuerwehrautos stehen und Wasser spritzen durfte. Auf seiner Todesanzeige war ein Foto dieses besonderen Momentes abgedruckt.

Die englische Ärztin Cicely Saunders, Begründerin der Hospizbewegung, bringt es auf den Punkt, worum es in der letzten Lebensphase vor allem geht: «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.»

Bearbeitung: Martin Schuppli, Tilmann Zuber, 25.10.2016

Quelle: www.deinadieu.ch

 

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