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Für den Himmel ein Kind

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25.10.2016
Stirbt ein Kind, ist das für die Eltern eine unfassbare Tragödie. Oft bricht der Schmerz auch Jahre danach nochmals hervor. Christa Cavigelli hat dieser Weg geheilt. Sie weiss nun: Das hatte alles einen Sinn.

Christa Cavigelli war zwei Jahre alt, als ihre Schwester zur Welt kam, 4. April 1963, die Ärzte sagten, sie habe hohes Fieber und erbreche. Das kleine Baby wurde in ein anderes Spital verlegt, nicht einmal die eigene Mutter durfte zu ihrem Kind. Wenn sie es besuchen kamen, sahen sie es durch eine Glasscheibe hindurch, Yvette, sie starb nach sechs Wochen. In Obersoultzbach wurde sie begraben, im Bereich der Kindergräber. Christa erinnert sich nicht an das Gesicht ihrer Schwester, aber an das Grab erinnert sie sich, die Mutter pflegte es, stellte frische Blumen auf. Begonien im Sommer, Stiefmütterchen im Winter. Christa half ihr beim Blumengiessen. «Ich habe diese Beziehung zu meiner Schwester durch das Grab», sagt die 55-Jährige, eine Fotografie gibt es keine. Aber irgendwann, ist sich Christa sicher, wird sie ihre Schwester im Himmel wiedersehen. «Ich glaube an ein Leben nach dem Tod.» Und so, wie sie ihre Schwester wiedersehen wird, wird sie auch ihr Kind wiedersehen, Raphael.

Raphael kam im April 1994 auf die Welt, ein Wunschkind, Christa war 33 Jahre alt. Er kam bereits in der 32. Woche, eine Frühgeburt, es hatte Komplikationen gegeben. Christa sagt, sie habe Angst vor der Geburt gehabt, vor den Schmerzen. «Ich bin mit vielen Ängsten aufgewachsen, wahrscheinlich, weil ich schon so früh Todeserfahrungen gemacht habe, aber ich habe das damals nicht reflektiert.»

Heute fragt sie sich, ob sie nicht die Ängste ihrer Mutter übernommen hatte. Man fragt sich alles Mögliche, um eine Antwort zu finden auf so eine Tragödie. Die Schuldfrage hat Christa lange begleitet. Bin ich nicht gut genug? Als Mutter, als Frau überhaupt? Habe ich mich falsch verhalten? Hat mein Glaube nicht gereicht?

Christa hat eine Antwort gefunden, heute, 22 Jahre später. Sie hat eine Krankenakte ihres Sohnes gefunden, in einer Schublade, sie hatte verdrängt, dass es sie gab. Der Bericht des Kinderspitals Basel, die ganze Krankheitsgeschichte ihres kleinen Raphaels. Darin steht, dass er verschiedenste Missbildungen hatte, dass er sich nicht entwickeln konnte, in ihrem Bauch, weil er hinter der Plazenta lag, unterversorgt. «Eine Laune der Natur.»

Auch Christa hatte eine Mangel-entwicklung, deshalb musste die Schwangerschaft frühzeitig beendet werden. Eine EPH-Gestose im Fachjargon, eine Schwangerschaftsvergiftung, Ödeme, Eiweiss im Urin, erhöhter Blutdruck. Man musste Raphael holen, sonst wäre es auch für Christa gefährlich geworden.

Kaiserschnitt, an einem Ostersonntag, es ging alles so schnell, medizinisch, technisch, alles ging so gut, so rasch. Perfekte medizinische Intervention, und in Christas Herz ein Loch. Während sie noch in der Vollnarkose liegt, bringen die Ärzte den kleinen Raphael in einer Isolette ins Kinderspital. Mutter und Kind werden getrennt, bevor Christa wieder erwacht. «Als ich aufwachte, war kein Kind da», sagt sie mit gebrochener Stimme. Christa liegt neun Tage lang auf der Intensivstation, Raphael auf der Intensivstation für Kinder. Ihr Mann pendelt zwischen den beiden hin und her, daneben die Arbeit, der Haushalt. Christa kämpft selbst mit dem Leben.

Erst nach zwölf Tagen kann Christa ihr Kind besuchen. «Ich hätte ihn so gerne auf den Arm genommen, aber er war so klein und zerbrechlich, intubiert, seine Lunge war unreif», sagt sie. Als sie ihn das erste Mal sah, kam die ganze Liebe in ihr hoch, unendlich gross, «das kann man gar nicht in Worte fassen», die grösste Liebe von allen.

Er sah seine Eltern an, der kleine Raphael, mit seinen grossen, schönen, dunklen Augen, seine kleine Hand in der Hand seiner Mutter. Fünf Monate kämpfte er um das Leben, vom 3. April bis 3. September, auf den Tag genau. «Die Ärzte sagten uns so oft: Er wird sterben. Aber wir hofften bis zum Schluss.» So zart und zerbrechlich war er, und doch so stark, «mit so viel Lebenswillen». Im Spital, sagt Christa, nannten sie ihn Pascha, den kleinen Prinzen, alle wussten, wie charismatisch, wie stark, wie besonders er war. «Ich bin stolz auf mein Kind», sagt Christa, «wir hatten die schönste Zeit mit ihm.» Kurz bevor er starb, haben seine Eltern Raphael segnen lassen. «Ich habe ihm Wurzeln gegeben, und ich habe ihm Flügel gegeben», sagt Christa. Und zu Raphael sagte sie: Ich habe dich so lieb, ich möchte dich so gerne mit nach Hause nehmen. Aber wenn du nicht mehr magst, wenn du zu müde bist, dann kannst du gehen. Und er ging.

22 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes kam alles wieder hoch. Die ganze Wut, die Ohnmacht, die Trauer. Christa hatte so lange funktioniert, so lange alles von sich geschüttelt, bis es sie wieder einholte. Sie hat Fotos von sich und ihrem Kind zerrissen, sie hat geweint, sie hat geschrien. Sie hat alle Bilder in ihrem Kopf nochmals durchlebt, diesen heissen Sommer vor so langer Zeit, die Glasboxen, die Intensivstation. Diese Momente, in denen die Stationsschwester wieder einen Vorhang vor einem Kind durchzog und sie wusste: Jetzt ist wieder eines tot. Dass sie danach nie wieder schwanger wurde, weil sie nicht wollte. Weil sie wusste: Die Chance ist da, dass alles wieder genau gleich wird, die gleichen Komplikationen. Nochmals ein totes Kind, das verkrafte ich nicht.

Christa sagt, ihre Mutter habe das Thema lieber verdrängt, als die Trauer zu durchleben. Christa ist anders. Sie malte schon als kleines Mädchen einen Grabstein in ihr Malbuch, als Erinnerung an ihre tote Schwester. «Für mich war klar, der Tod gehört auch zum Leben». Ihre Mutter sagte damals: So was malt man nicht, das bringt Unglück. Christa sah ihre Mutter nicht oft weinen.

Christa hingegen ist aus ihrer Starre der Trauer erwacht und arbeitet alles auf, mit ihrem Mann, mit Gestaltungstherapie, mit sich selbst.

Anna Miller, 25.10.2016

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