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Von Kiew nach Olten

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26.04.2022
Auf der Flucht vor dem Krieg verliessen Shcherbakovis ihre Wohnung und ihre Freunde. In Olten wurden sie herzlich aufgenommen. Doch die 60-jährigen Eheleute und die 85-jährige Mutter vermissen die Heimat.

In Kiew heulten die Sirenen, als die ersten Raketen einschlugen. Nachts konnten die Shcherbakovis Schüsse in den Strassen hören. Die Front war noch dreissig Kilometer entfernt, schätzt Yevhenii Shcherbakov, als sich seine Frau, ihre 85-jährige Mutter und er entschlossen, in den Westen zu fliehen. Sie konnten nur wenige Habseligkeiten in den Seat Leon packen und natürlich den Familienhund Rada. Ihr Ziel war Olten, wo ihre Tochter mit ihrer Familie lebt. Vor zwölf Jahren zog Yulia Schoger in die Schweiz, heiratete, bekam zwei Kinder und arbeitet heute bei einem Pharmadienstleister.

Die beiden 60-Jährigen haben ihre Wohnung, ihre Verwandten und ihre Bekannten und ihren Traum von einem ruhigen Lebensabend zurückgelassen. Die beiden Ingenieure arbeiteten ihr Leben lang. Vor kurzem kauften sie sich ein Sommerhaus, sie planten, im Garten Gemüse anzupflanzen. Nie hätten sie erwartet, dass sie alles zurücklassen und flüchten müssten, erzählen sie. Wie die meisten hätten sie nicht an den Krieg geglaubt, sagt Olena Shcherbakova, selbst dann nicht, als Russland die Truppen zusammenzog.

Eine Fahrt von zweieinhalb Tagen
Shcherbakovis sind am 5. März mit Freunden in zwei Autos aus Kiew losgefahren. Zweieinhalb Tage brauchten sie für die 600 Kilometer bis zur polnischen Grenze. Alle Unterkünfte waren besetzt. Nachts schliefen die drei und der Hund im engen Seat Leon. Die direkte Fahrt nach Lemberg war nicht möglich, immer wieder mussten sie umkehren, da eine Brücke gesprengt war oder sie befürchteten, auf russische Truppen zu stossen. Vor der Grenze trafen sie auf den langen Stau und mussten warten. Dann endlich konnten sie die Grenze überqueren und trafen auf Yulia, Manfred und Michael Schoger, die in Polen auf sie warteten. Die 85-jährige Mutter war völlig erschöpft. Von Polen fuhren sie in die Schweiz. Shcherbakovis wunderten sich, wie unkompliziert die Einreise war. Der Zöllner blickte nur kurz auf ihr ukrainisches Kennzeichen und winkte sie über die Grenze. Als sie in der Vergangenheit ihre Tochter in Olten besuchten, mussten sie anfangs an der Grenze ihre Visa vorlegen.

Während der ersten Zeit in Olten kam die ganze Familie im Haus der Tochter unter. Doch es wurde eng, und die Privatsphäre fehlte, sagt Yulia Schoger. So wohnen ihre Eltern und die Grossmutter jetzt in der Wohnung von Bekannten. Freunde halfen bei der Einrichtung.

Sehnsucht nach der Heimat
Immer wieder beteuern die Shcherbakovis, wie dankbar sie den Menschen hier in Olten sind, die sie so herzlich aufgenommen haben und sie unterstützen. Sie haben angefangen, mit Hilfe einer App Deutsch zu lernen, die Tochter hat sie bei einem Deutschkurs angemeldet. Die Übersetzungsapp von Google sei sehr nützlich, erklärt Yulia Schoger. Doch das Herz und die Gedanken ihrer Eltern sind in der Ukraine. Der Vater würde am liebsten schon heute zurückkehren. Die anderen halten dies für zu gefährlich. Sie verfolgen tagtäglich die Nachrichten aus der Heimat. Sie vermissen ihr Zuhause und die Freunde und sorgen sich um die Leute, die geblieben sind. Der Bruder der Grossmutter lebt 150 Kilometer nordöstlich von Kiew. Er braucht Pflege und kann nicht weg. Eine Zeit lang konnten sie mit ihm telefonieren, doch nun erreichen sie ihn nicht mehr. Sie wissen nicht, was mit ihm geschehen ist.

Zwischen Russen und Ukrainern gebe es keinen Konflikt, versichert Yevhenii Shcherbakov. «Das Ganze ist eine Erfindung der russischen Propaganda, eine grosse Lüge.» Der Beweis dafür sei er selbst, erklärt Yevhenii Shcherbakov. Er hat russische Wurzeln und hat sein Leben lang Russisch in Kiew gesprochen. Nie sei das ein Problem gewesen, nie fühlte er sich diskriminiert, nie hätten die Ukrainer Menschen unterdrückt.

Das vergiftete Klima bereitet ihnen Sorge. Wenn sie ihre Verwandten in Russland anrufen und ihnen vom Krieg in der Ukraine und von ihrer Flucht erzählen, wollen diese nichts davon hören. Das bedrückt ihn. Yulia und Manfred Schoger rechnen nicht damit, dass der Krieg bald zu Ende geht. Es brauche Geduld, viele Flüchtlinge seien traumatisiert oder mittellos. Schogers hoffen, dass die Solidarität in der Schweiz nicht endet, wenn sich der Krieg dahinzieht.

Tilmann Zuber

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