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Hildegard - Heil und Heilung

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29.03.2023
Als Studentin kaufte ich mir Dinkelmehl, Zimt, Nelkenpulver und Muskatnuss und buk von meinem damaligen Mann so getaufte «Lächelkekse» nach einem Rezept von Hildegard von Bingen (1098-1179). Auch wenn ich meine theologische Arbeit über Teresa von Avila schrieb, so faszinierte mich Hildegard damals auch schon.

Eine Frau, die Werke über Medizin schrieb, Lieder komponierte, Visionen hatte, theologische und ethische Abhandlungen schrieb und in Korrespondenz stand mit den bedeutendsten Theologen der damaligen Zeit, musste wirklich aussergewöhnlich sein. Als Studentin fand ich dennoch den Zugang zu ihr nicht recht, sie schien mir fern, ihre Zeit des zwölften Jahrhunderts weit weg. Zu sehr verschwand sie hinter ihrem Werk. Wahrscheinlich war ich damals schlicht zu jung für sie.

Leben

Sie war das zehnte Kind adeliger Eltern und wurde daher Gott geweiht (der biblische Zehnte). Und so wurde sie mit zarten acht Jahren Jutta von Sponheim zur religiösen Erziehung übergeben. Mit vierzehn Jahren wurde sie Inklusin (d.h. Eingeschlossene, wie Wyborada) auf dem Disibodenberg, einem Benediktinerkloster. Dort legte sie ihre ewigen Gelübde ab. Ihre Klause wuchs und nach dem Tod Juttas wurde Hildegard zur Vorsteherin gewählt. Als sie ein eigenes Kloster gründen wollte, hatten die Benediktiner keine Freude, da ihre wachsende Klause beträchtliche Einkünfte generierte. Zudem war sie einigen Mönchen sehr suspekt. Denn bereits dort verfasste sie ihre ersten Werke. Sie konnten nicht nachvollziehen, dass Gott einem «ungebildeten Weibe» solche Einsichten schenken sollte. Daher war ihr Wunsch nach einem eigenen Kloster auch aus der Not geboren. Auf dem Rupertsberg gelang schliesslich die Gründung des eigenen Klosters. Die ersten Jahre lebten die Schwestern in grosser Armut, da der Abt die Herausgabe der Güter verweigerte. Doch Hildegard erkämpfte sie und die Unabhängigkeit ihres Klosters.

Dort wirkte sie als Äbtissin bis zu ihrem Tod. Wiewohl sie oft krank war, wurde sie für damalige Begriffe sehr alt. Sie unternahm ausgedehnte Predigtreisen und scheute sich nicht, auch König und Papst ins Gewissen zu reden.

Im Jahr 1178 geriet ihr Kloster unter Bann. Im Kloster durften keine Sakramente empfangen werden, Gottesdienste waren untersagt. Der Grund war, dass sie einen aus der Kirche ausgeschlossenen Adeligen aufgenommen hatte, der seine Taten bereute und beichtete. Als er starb, wurde er auf dem Klosterfriedhof bestattet. Hildegard weigerte sich, ihn auszugraben und im Schandacker verscharren zu lassen. Der Bann setzte ihr zu. Nach langen Verhandlungen wurde dieser vom Erzbischof von Mainz aufgehoben. Ein halbes Jahr später starb sie.

Heil und Heilung

Als Kind sah sie bereits bei einer trächtigen Kuh das Kälblein in ihrem Leib. Anfänglich dachte sie, dass jeder dies sähe, erst mit der Zeit erkannte sie, dass sie eine besondere Gabe besass. Später, als dann Visionen und Auditionen zunahmen, wurde sie krank, bis sie bereit war, der göttlichen Stimme zu gehorchen. Sie liess sie aufschreiben durch ihren Sekretär und Vertrauten, Bruder Vollmar. Sie selbst beherrschte nur einfaches Latein im Unterschied zum geschulten Mönch. Sich selbst bezeichnete sie als «Feder im Windhauch Gottes», sie erlebte sich in Hingabe dahin getragen, wo der göttliche Windhauch sie haben wollte.

Die Bilder ihrer Werke sprechen Menschen bis heute an, manches verstehen wir vielleicht auch erst heute, denn sie war ihrer Zeit weit voraus. Ihr Bild des Kosmosrads z.B. weist Ähnlichkeiten auf mit einem tibetischen Mandala (Rad des Lebens und des Sterbens), welches im elften Jahrhundert entstand. Ohne Möglichkeit des direkten Austauschs wurde ähnliches geschaut.

Ihr Menschenbild beruht auf dem ersten Schöpfungsbericht, gemäss welchem der Mensch nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde. Diese Sichtweise ist in sich bereits heilsam, denn sie reduziert den Menschen nicht auf das «Sündig-Sein», sondern bezeugt seine Gottebenbildlichkeit. Hildegard beschreibt, besingt und schaut ausserdem die Weisheit (Sophia) Gottes, durch welche die Welt erschaffen wurde (Spr. 8, 22-31). Diese ist ebenso die Heilige Geistkraft Gottes. Auf dem Bild des Kosmosrads ist es die feurige Sophia, welche alles umfasst mit ihren Flammen der Liebe. Aus ihrem Haupt wächst Gott-Vater. Unter dem Feuerring ein schmalerer, schwarzer Ring, die Farbe für das Dunkle, bereits auch durchleuchtet von Feuer. Hildegard wagt es, auch das Dunkle in Gott zu integrieren. In einem weiteren Kreis folgt Äther mit vielen Sternen, dann Wasser, und schliesslich ein Kreis mit den vier Winden, zuinnerst als braune Kugel die Erde. Der Mensch, der sich hier ausstreckt, christusgleich, ragt also weit über sie hinaus. Sein Geschlecht ist in der Mitte der Erde, Energielinien führen über ihn hinaus und durch ihn hindurch. Hildegard schreibt dazu: «Auf dieser Welt hat Gott den Menschen mit allem umgeben und gestärkt und hat ihn mit gar grosser Kraft rundum durchströmt, damit ihm die ganze Schöpfung in allen Dingen beistünde. Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Verfügung stehen, auf dass er mit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann.»

«Hildegard von Bingen gilt als älteste schreibende Ärztin.»

Entsprechend sieht sie in allem, was geschaffen worden ist, eine Grünkraft, die Heilung schafft. Sie empfiehlt Aufenthalte in der Natur oder Wandern, wenn die Grünkraft geschwächt ist. Heute können wir wissenschaftlich nachweisen, dass Hildegards Vorschlag wirkt, denn wir wissen, dass Pflanzen kommunizieren können und «Waldbaden» tatsächlich heilsam ist. Natürlich ist es ebenso richtig, dass wir ohne Natur nicht leben können.

Für Hildegard bedeutete Heil und Heilung daher immer auch, im Einklang mit der Weisheit Gottes zu leben, im Einklang mit ihrer Liebe, im Einklang mit der Natur und der Schöpfung und dem gesamten Kosmos.

Einklang, dazu gehören auch ihre Lieder und ihr Singspiel, die Harmonie und Schönheit dieser Gesänge berühren mich bis heute. Und ihr medizinisches Werk. Sie hatte kein rein geistiges Verständnis von Heilung. Ihr war wichtig, dass der Körper gepflegt und gestärkt wurde. Für eine Nonne eher aussergewöhnlich hat sie sogar den Geschlechtsverkehr geschildert. Sie hat ein umfassendes medizinisches Werk hinterlassen. Daher gilt sie als älteste schreibende Ärztin. Sie sammelte und erforschte damaliges Erfahrungs- und Heilwissen. Hierfür machte sie genauso göttliche Inspiration geltend. Es gibt allerdings einige sehr spezielle Rezepte. Gegen Gicht empfiehlt sie z.B., Walfischaugenlider über Nacht in Wein einzulegen und diesen abgeseiht zu trinken.

Ihre Theologie, ihre Schau des Kosmos und ihre Musik sind mir zugegebenermassen näher. Hier finde ich eine zeitlose Tiefe, welche ich nicht ganz ausloten kann, die mich rück-verbindet (= re-ligio, Religion) mit dieser göttlichen Weisheit und Lebenskraft, dem Feuer der Heiligen Geistkraft, die heilsam wirkt bis heute.

Annette Spitzenberg

 

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Thomas Sonderegger ist Hausarzt der Inneren Medizin in einer Gemeinschaftspraxis in St. Gallen und wohnt in Speicher. Der gebürtige Appenzeller hat früh zu seiner Berufung als Arzt gefunden.