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«Das Kreuz hinerfragt den religiösen Terror»

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16.07.2018
Der Theologe Mitri Raheb begleitete eine Tanzgruppe aus Bethlehem in die Schweiz. Der Palästinenser im Gespräch die Politik der USA, die Kreuzestheologie im palästinensischen Kontext und über Perspektiven in Bethlehem.

Sie leben in Bethlehem. Wie ist die momentane Situation dort?

Mitri Raheb: Die Stimmung ist depressiv. Nicht nur die jüngsten Entwicklungen, wie der Umzug der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem oder die Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser vor 70 Jahren mit der Staatsgründung Israel, haben dazu beigetragen. Auch der Fakt, dass Bethlehem heute von drei Seiten von der Trennmauer und von 19 israelischen Siedlungen umgeben ist. Die Stadt kann nicht mehr wachsen, erstickt langsam. Wir haben kaum noch Grünfläche. Trotzdem versuchen die 60 000 Menschen in Bethlehem, von denen 25 000 christliche Palästinenser sind, ihr Leben zu leben.

Sie haben den Umzug der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem angesprochen. Wie schätzen Sie den Einfluss der Evangelikalen auf die US-Politik in Israel ein?

Sie haben bestimmt einen Einfluss. Aber ich denke, dass dieser manchmal auch überschätzt wird. Genauso wichtig finde ich das amerikanische Selbstverständnis, das wir jetzt in deren Israel-Politik spüren: Die Amerikaner verstehen sich als Siedlervolk. Von Gott berufen haben sie das Gelobte Land der USA besiedelt. In Israel sehen sie ein Spiegelbild ihrer eigenen Geschichte und das ist gefährlich. Am gefährlichsten ist aber die Israel-Lobby AIPAC, die die Evangelikalen für ihre Ideologie einsetzt.

Glauben Sie, dass die Zeit für eine Einstaatenlösung gekommen ist?

Nein, dafür ist es noch zu früh. Es ist aber auch zu spät für eine Zweistaatenlösung. Deshalb befinden wir uns derzeit in dieser gefährlichen Übergangszeit, die von Apartheid geprägt ist.

In Ihrem jüngsten Buch fokussieren Sie auf die Bedeutung des Kreuzes im palästinensischen Kontext. Was sind Ihre Erkenntnisse?

Das Kreuz ist das beste Symbol für das palästinensische Selbstverständnis. Es ist aber mehr als Symbol, es ist fast Identität. Interessanterweise verwenden auch muslimische palästinensische Schriftsteller und Künstler das Kreuz immer wieder in ihren Werken. Während hier in der Schweiz das Kreuz eher individualistisch verstanden wird, ist es für Palästinenser ein Symbol für unser gemeinsames Schicksal.

Wieso?

Mit dem Tode Jesu am Kreuz steht das Kreuz im Zentrum der christlichen Theologie. Seine Kreuzigung ist das Resultat der römischen Besatzung wie auch der religiösen Führerschaft. Deshalb stellt das Kreuz sowohl den Staatsterror wie auch religiösen Terror infrage. Wir Palästinenser leben unter israelischer Besatzung, in der Religion für den israelischen Staat genutzt wird. Das Kreuz hinterfragt genauso den religiösen Terror von ISIS und anderen religiösen Gruppierungen, die Menschenrechte im Namen von Gottes Recht verletzen.

Sie sehen zwischen den Israeliten und den Palästinenser eine Parallele.

Ja, die Israeliten lebten in der Bibel stets unter fremden Besatzungsmächten. Die Palästinenser durchleben eine ähnliche Geschichte. Zuerst besetzten die Assyrer unser Land, danach bestimmten die Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Ottomanen, die Briten und heute die Israelis über uns.

Fragen Sie sich manchmal, wo Gott ist?

Für einen Palästinenser in den besetzten Gebieten scheint Gott sehr still zu sein. Wo bist du Gott, mag sich manch einer fragen. Es scheint, als würde Gott über all die Jahrzehnte tatenlos zuschauen, wie Menschen ins Exil gehen. Weil Gott das ultimative Opfer des Todes Jesu ist, steht Gott aber in absoluter Solidarität zu uns.   Raha 

In Betlehem haben Sie ein Begegnungs- und Kulturzentrum sowie die Hochschule «Dar al-Kalima» gegründet. Was wollen Sie damit bewegen?

Wir wollen Kindern einen Ort der Selbstentfaltung ermöglichen, wo Begabungen entdeckt und gefördert werden. Pro Woche besuchen über 1000 Kinder unser Tanz-, Musik- und Sportangebote. In der Hochschule «Dar al-Kalima»  soll die nächste Generation kreativer Führungskräfte für Palästina heranwachsen. Dadurch sollen junge Leute Lebensperspektive erhalten und so eine Kultur des Lebens fördern. Das ist deshalb so wichtig, weil bei uns der Tod überall präsent ist. Ich verstehe diese Arbeit als einen Teil des kreativen Widerstandes.

Interview. Nicola Mohler, reformiert.info 

 

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