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«Wenn etwas Schlimmes geschieht, ist die Kirche durchaus gefragt»

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05.09.2018
Seit einer Messerstecherei, bei der ein 35-jähriger Deutscher durch mutmasslich ausländische Täter zu Tode kam, kommt die sächsische Stadt Chemnitz nicht zur Ruhe. Erst gab es Ausschreitungen und Hetzjagden auf Menschen mit dunkler Hautfarbe, dann Demonstrationen des rechten und linken Lagers. Der evangelische Pfarrer und Kommunikationsbeauftragte der Kirche, Stephan Brenner, über die Stimmung in seiner Stadt und die Rolle der Kirche in Krisenmomenten.

Sie wohnen seit über 30 Jahren Chemnitz und sind dort in der Kirche tätig. Ist das Chemnitz der vergangenen Tage die Stadt, die Sie kennen?
Stephan Brenner: Ich kannte Chemnitz schon vor dem Mauerfall, als es noch Karl-Marx-Stadt hiess. Und ich muss sagen, ich bin erschrocken, über das, was geschehen ist. Das Chemnitz, das ich kenne, ist eine menschenfreundliche Stadt, in der es soziales Engagement gibt. In der verschiedene Menschen, unterschiedlicher Generationen leben. Und Christen unterschiedlicher Prägung, die nun erschüttert sind über das, was hier passiert ist. Ich sehe Chemnitz nicht als nationalistische, menschenverachtende Stadt. Aber dass es diese Tendenzen gibt – und zwar nicht nur in Chemnitz – das war mir nicht unbekannt.

Der Fall hätte sich also genauso in einer anderen Stadt ereignen können?
Es ist ein Fakt, dass es in Sachsen tendenziell mehr Menschen mit rechtsnationalem Denken gibt als in anderen Regionen. Das heisst aber nicht, dass es anderswo nicht möglich gewesen wäre.

Chemnitz hat ein ereignisreiches Wochenende hinter sich mit Demonstrationen des rechten Lagers und mit einer Gegendemonstration «Herz statt Hetze». Am Sonntag gingen über tausend Menschen für Toleranz auf die Strasse – organisiert von der Kirche. Welches Lager dominiert die Stimmung?
Die Stimmung spiegelt die Gegensätzlichkeit wieder, die in der Stadt herrscht. Oft werden ja die Zahlenverhältnisse herangezogen, um ein Urteil zu fällen. Aber es gibt in Chemnitz auch viele Menschen, die nicht auf solche Demos gehen, weil sie sich nicht in derartige Auseinandersetzungen hineingeben wollen. 

Sind die Mutbürger, diejenigen, die sich für Toleranz einsetzen, zu leise?
Am Montagabend hatten wir ein Rockkonzert und für meinen Geschmack war das gar nicht zu leise. Das hat einen anderen Impuls gegeben, ein Zeichen für Menschlichkeit aus unserer Stadt gesetzt. Aber es ist klar, dass es viele Menschen gibt, die nicht die Konfrontation suchen. 

Bei den Demonstrationen 1989, die zum Mauerfall führten, wurde der Spruch «Wir sind das Volk» geboren. Wie war das für Sie, diese Worte nun aus dem rechten Lager zu hören?
Das tut weh. Ich frage mich, wer von denen, die  heute «Wir sind das Volk» brüllen, den gleichen Spruch schon 1989 gerufen haben. Die damaligen Demonstranten hatten es mit einem diktatorischen System zu tun. Nicht vergleichbar mit heute und hier.

Die Kirche hat mit den Friedensgebeten und den anschliessenden Demonstrationen damals dem politischen Widerstand in der DDR Raum gegeben. Müsste sie auch heute wieder politischer werden?
Damals herrschte eine andere Situation. Die Kirche war die einzige Institution, die einen gewissen Spielraum für Widerstand und anderes Denken bieten konnte. Heute kann jeder eine Demonstration in der Innenstadt anmelden. Aber wir sind wieder gefragt als eine Institution, die Sinnfragen stellt und Impulse geben soll. 

Was kann die Kirche der Gewalt entgegensetzen?
Es geht ja nicht immer nur darum zu sagen, wogegen man ist, sondern auch darum, zu zeigen, wofür man einsteht. Die Kundgebung am Sonntag hat unter dem Motto «Wir in Chemnitz - aufeinander hören, miteinander handeln» den Menschen zum Beispiel diese Möglichkeit gegeben. Man kann nicht von allen erwarten, dass sie lautstark auftreten. Die Kirche kann auch leise Menschen ansprechen und ihnen ein Forum bieten. Und wir haben ja auch unsere «Formate» wie man so schön sagt. Gottesdienste, Gemeindekreise, Friedensgebete. Zudem ist es unsere Aufgabe, Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Menschen.

Wie sieht das konkret aus?
Wir können nun nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Entscheidend ist zu zeigen, dass wir für Respekt, Dialog, Gewaltlosigkeit, Barmherzigkeit und für Demokratie einstehen. Für Veranstaltungen wie einen runden Tisch oder Gesprächsforen müssen wir auch über unseren kirchlichen Rahmen hinaus schauen und uns mit anderen Institutionen vernetzen. Da ist noch nichts entschieden. Aber das wird sicher in der nächsten Zeit geschehen. 

In Chemnitz sind nur etwa 15 Prozent der Einwohner Christen. Wie relevant kann die Kirche da gesellschaftspolitisch sein?
Wir sind in der Minderheit. Das erleben wir auch im Alltag. Aber wir sind nicht unbedeutend, wir haben gute Kontakte zu nicht-kirchlichen Institutionen in der Gesellschaft. Und: Wenn etwas Schlimmes geschieht, ist die Kirche durchaus gefragt. Ich will jetzt nicht etwa die Begriffe Notnagel oder Feuerwehr verwenden. Aber plötzlich fragen dann die Medien: «Wie sieht das die Kirche?» Kirchenvertreter sitzen auf den Podien von Diskussionsveranstaltungen, und so kann die Kirche in der Gesellschaft einiges bewegen. 

Welche Chance hat die evangelische Kirche überhaupt, in den neuen Bundesländern zu wachsen?
Die Realität sieht derzeit so aus: Die Zahl der Mitglieder geht zurück. Deswegen bewegen uns Themen wie eine grosse Strukturreform, bei der es um neue Einheiten und Arbeitsbereiche geht. Das hängt aber nicht nur mit Austritten zusammen, sondern mit der demografischen Entwicklung. Die Bevölkerungszahlen schwinden, ältere Menschen sterben und Jüngere gehören oft der Kirche nicht mehr an. Die Statistiker haben ihre Prognosen. Als Christ geht man aber davon aus, dass noch andere Dinge eine Rolle spielen können, ich nenne sie mal die «Wirkung des heiligen Geistes». Wir glauben nicht uneingeschränkt an die Statistik, da gibt es noch immer einen anderen Glaubensvorbehalt. 

Cornelia Krause, reformiert.info, 5. September 2018

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