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«Wir sollten Trauer über den Verlust von Kontakten zulassen»

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27.01.2021
Carla Maurer, Pfarrerin der Swiss Church in London, über Gemeindeleben im harten Lockdown, neue Ideen für diakonische Arbeit und den besonderen Trauerprozess im Zuge der Pandemie.

Frau Maurer, in London wurde kurz vor Weihnachten ein harter Lockdown verhängt und wegen der britischen Virus-Mutation war plötzlich auch ganz Grossbritannien von Europa abschnitten. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Das waren die Tage, in denen man gemerkt hat, dass die nächste Welle kommt und zwar heftig. Und dass damit eine neue Stufe von Einschränkungen einhergeht. Mit Blick auf die Weihnachtsfeiertage mussten die Menschen sehr schnell wichtige Entscheide treffen. Wir etwa mussten entscheiden, meine Schwiegermutter nicht zu sehen. Sie lebt alleine und dieser Entscheid tat weh, aber ein Treffen hätte sich einfach nicht richtig angefühlt. So haben wir Weihnachten zu dritt gefeiert, mein Mann, mein Sohn und ich. 

Viele der Gemeindemitglieder fahren in dieser Zeit auch in die Schweizer Heimat. Wie schwer hat sie die Situation getroffen?
Einzelne, gerade ältere Gemeindemitglieder, haben sich noch rechtzeitig entschieden, die Reise nicht anzutreten. Andere erlebten eine regelrechte Odyssee. Eine Familie mit Kleinkindern fuhr einen Tag vor dem Lockdown in London los, musste wegen der Einreisebestimmungen in Frankreich die Route ändern und schaffte es gerade noch in die Schweiz, um dort dann in der Quarantäne zu landen, die der Bundesrat rückwirkend verfügte. Da gab es teils verrückte Geschichten. 

In England sollen die Menschen das Haus seitdem nur noch aus triftigen Gründen verlassen, Treffen sind nur noch draussen mit jeweils einer Person aus einem anderen Haushalt erlaubt. Wie kommen die Gemeindemitglieder damit zurecht?
Ich habe den Eindruck, die meisten halten sich an die Regeln. Einmal pro Tag darf man noch draussen Sport treiben, etwa spazieren gehen. Das nützen viele der älteren Gemeindemitglieder auch aus. Mittlerweile haben viele unserer Seniorinnen und Senioren bereits eine erste Impfdosis erhalten, das entspannt die Situation ein wenig.

Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?
Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man weiss, dass die Krankenhäuser um einen herum zu denen gehören, die am stärksten überlastet sind mit Covid-Patienten. Man weiss, es ist wichtig, jetzt nicht auch noch einen Unfall zu haben. Das ist ein unangenehmes Gefühl. 

Wie halten Sie den Kontakt zur Gemeinde?
Wir haben schon im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 auf Online-Meetings und Audio-Gottesdienste umgestellt. Im Herbst hatten wir zwei Gottesdienste in der Kirche, aber ansonsten treffen wir uns immer wieder in kleineren Gruppen über Zoom. Es gibt auch Whatsapp-Gruppen und ansonsten bin ich per Telefon mit einzelnen Gemeindemitgliedern in Kontakt. Hin und wieder verschicke ich Predigten per Post. Grundsätzlich ist es so, dass Gottesdienste noch zulässig wären, aber viele unserer Gemeindemitglieder haben eine längere Anreise. Die wäre für ältere Menschen, die auch noch auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind, eine Zumutung. Deswegen machen Gottesdienste vor Ort gerade wenig Sinn. Aber Online-Gottesdienste haben auch weitere Vorteile. 

Die wären?
Ab und an schauen wir Gottesdienste anderer Kirchen, jüngst etwa einer Church of Scotland Gemeinde in Edinburgh. Und letztens konnte ich live die Predigt in einer Gemeinde in den USA halten, wo ein Studienkollege von mir Pfarrer ist. Bei uns schauen ja vielleicht 20 Menschen zu, dort waren es 100. Das ist schon auch eine tolle Chance, andere Kirchen und Gemeinden kennenzulernen.

Die Gemeinde der Swiss Church in London hat vorwiegend ältere Mitglieder. Bestehen Befürchtungen, dass man sich infolge der Pandemie aus den Augen verliert?
Dass die Gemeinde schrumpft, ist schon lange so und ja, die Pandemie könnte diesen Prozess noch beschleunigen. Andererseits waren die zwei Gottesdienste im Herbst sehr gut besucht. Und über unsere Audiogottesdienste haben wir auch neues Publikum erreicht. Für mich ist der Sonntagsgottesdienst der Herzschlag der Gemeinde und es tut mir weh, wenn er zunehmend an Bedeutung verliert. Aber auch ohne Sonntagsgottesdienst sind wir eine sehr lebendige Gemeinde - im Sinne der Fresh Expressions. Es geht um neuere Formen von Kirche in einer sich wandelnden Gesellschaft. Das wird langfristig eine grössere Rolle spielen.  

Was schwebt Ihnen da konkret vor?
Wir sind ja bereits sehr aktiv im Bereich Kunst, indem wir Künstlern Räume für Arbeit und Ausstellungen zur Verfügung stellen. Wichtiger wird infolge der Pandemie nun wohl auch die Arbeit im Bereich Jugendarbeitslosigkeit. Neu bieten wir Praktikumsstellen für junge Menschen an. Und auch in der Arbeit mit Obdachlosen müssen wir schauen, was künftig getan werden kann. Dort gab es durch die Pandemie viele Veränderungen, wir sind in Kontakt mit anderen Organisationen, um die Bedürfnisse zu evaluieren. 

Welche Veränderungen?
Die Obdachlosigkeit ist weniger sichtbar, weil viele Obdachlose in Hotels untergebracht wurden. Aber es dürfte wohl mehr Obdachlose geben als zuvor und nun sind sie an anderen Orten anzutreffen als vorher. Genau das evaluieren wir im Moment, um angemessen darauf reagieren zu können. 

Der Brexit ist seit Jahresbeginn Realität. Spürt man den Austritt aus der EU im Alltag oder wird er komplett von der Pandemie überschattet?
Wir beginnen gerade erste Auswirkungen im Alltag zu sehen. Etwa wenn bei Bestellungen aus der EU plötzlich horrende Zollgebühren anfallen. Die schottischen Fischer nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen, weil sie den Fisch wegen der langwierigen Formalitäten eh nicht in der EU verkaufen können. Viele Fragen sind noch offen: Wie britische Musiker in der EU touren können. Ob in Grossbritannien wohnhafte Auslandschweizer nun wieder in die AHV einzahlen können. Ich habe im Sommer einen zweimonatigen Kanzeltausch mit einer Zürcher Kollegin geplant. Da stellen sich Fragen bezüglich der Arbeitsbedingungen für die Kollegin aus der Schweiz.

Was sind Ihre Hoffnungen für dieses Jahr?
Ich gehöre nicht zu den Optimisten, die sagen, hey, jetzt kommt die Impfung und dann ist plötzlich alles wie vorher. Ehrlich gesagt, stelle ich mich auf ein schwieriges Jahr 2021 ein und hoffe auf eine Rückkehr zur Normalität in 2022. Und ich glaube, dass uns diese Pandemie psychisch noch länger belasten wird, als wir uns das jetzt vorstellen. Es mag sein, dass manche Menschen schnell wieder Konzerte oder Stadien besuchen. Andere werden aber länger brauchen, bis die Sorglosigkeit von früher, das unbeschwerte Beisammensein wieder möglich ist. Diese Menschen stecken in einer Art Trauerprozess. 

Sie trauern worüber?
Freundschaften lassen sich über Skype nicht im gleichen Stil pflegen wie bei persönlichem Kontakt, da geht etwas verloren. Tiefgründige Gespräche fallen weg, das wirkt sich aus. Auch wenn dieser Zustand vorübergeht: Man sollte die Trauer über den Verlust von Kontakten und Vertrautem zulassen und sich eingestehen.

Interview: Cornelia Krause, reformiert.info

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