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«Die Menschen haben Halt erfahren, das zählt»

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21.01.2022
Ein halbes Jahr nach der Flutkatastrophe in Deutschland blickt Thorsten Latzel, leitender Pfarrer des Rheinlands, zurück und sagt, was die Menschen jetzt noch brauchen.

Seit der verheerenden Flutkatastrophe in Deutschland, die vor allem Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz getroffen hat, sind sechs Monate vergangen. Wie geht es den Menschen heute?
Eine pauschale Aussage lässt sich nicht machen, denn die Betroffenen stehen an sehr verschiedenen Punkten. Während einige ihre Häuser von Schutt und Schlamm befreit haben, überlegen sich andere, ob sie ihr Heim überhaupt wieder aufbauen sollen. Während die einen bereits Geld vom Staat erhalten haben, warten andere noch immer auf Unterstützung. Alleine im Ahrtal sind 150 000 Menschen betroffen. 15 000 davon kämpfen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, schätzen Fachleute.

Wie unterstützt die Kirche diese Menschen?
Unmittelbar nach den Überschwemmungen war es wichtig, dass die Leute wieder Boden unter die Füße bekamen. Dafür sorgten die Einsatzkräfte wie Feuerwehr, Hilfsorganisationen und Notfallseelsorge. Als diese Ersthelfer wieder abzogen, ging es darum, eine gewisse Normalität herzustellen: die neue Wohnung einrichten, Anträge für finanzielle Hilfe stellen oder eine gewisse Infrastruktur aufbauen. Hierfür hatten wir Unterstützung von Partnerorganisationen und Experten, etwa der landesweiten Katastrophenhilfe der Diakonie. Wir haben zum Beispiel geholfen, abzuklären, wer für welche Schäden aufkommt. Denn es gilt eine vorgegebene Reihenfolge zu beachten: zuerst springen die Versicherungen ein, dann kommen die staatliche Hilfe und schließlich Spenden von Privaten und der Kirche zum Tragen.

Auch viele Kirchgemeinden blieben von den Fluten nicht verschont. Haben Sie Beispiele von solchen, die es besonders schwer traf?
Die Martin-Luther-Kirche in Bad Neuenahr ist ein Beispiel. Das Wasser stand bis zum Türgriff der Eingangstür. Doch die Bibel auf dem Altar ist trocken geblieben. Hier hielten wir früher immer unsere Synodengottesdienste ab. Alleine im Rheinland sind über 100 kirchliche Gebäude beschädigt, darunter 17 Kirchen. Doch bei aller Zerstörung gibt es auch Geschichten, die Hoffnung machen.

Nämlich?
Freiwillige aus einer Kirchgemeinde in Westfalen haben in der evangelischen Kirche in Solingen-Unterburg, die stark zerstört wurde, einen provisorischen Holzboden verlegt. Sämtliche Bänke waren draußen und in diesem Raum haben die Leute dann Weihnachtsgottesdienst gefeiert. Die Atmosphäre war speziell, insbesondere vor dem Hintergrund der Weihnachtsgeschichte, bei der man von Krippe und Stall spricht und dann die nackten Steinwände und das frische Holz sieht. Die Kirchgemeinde überlegt nun, ihr Gotteshaus als Pilgerkirche zu eröffnen, da sie an einem beliebten Rad- und Wanderweg liegt.

Hierzulande ist die Flutkatastrophe in den Medien kaum mehr ein Thema. Wie sieht das in Deutschland aus?
Das Ereignis war eine derart tiefgreifende Erfahrung, dass es immer wieder auftaucht in den Nachrichten, vor allem in den Jahresrückblicken. Doch in der Wahrnehmung einzelner Betroffener sieht das schon anders aus. Sie machen sich Sorgen, dass der Rest der Welt sie vergisst. Denn die globale Aufmerksamkeit hat sich rasch auf andere Themen wie Afghanistan oder die Bundestagswahl verschoben. Unsere diakonische Hilfe und seelsorgerliche Begleitung sind darum weiterhin wichtig.

Wie sieht diese Hilfe konkret aus?
Über 40 Personen der Evangelischen Kirche im Rheinland sind damit beauftragt, die Leute in den betroffenen Gebieten zu besuchen. Das sind Menschen, die Erfahrung in Psychologie oder Traumatherapie haben oder Pfarrpersonen mit besonderen Kompetenzen. Diese erkennen auch, wenn jemand suizidgefährdet ist, weil eine Person zum Beispiel kein soziales Netz mehr hat. Während Weihnachten, der Zeit der Riten und Familienfeste, war es besonders schmerzvoll, daran erinnert zu werden, dass es etwa auch den ganzen Weihnachtsschmuck weggeschwemmt hat. Hilfe von außen und Spenden haben diesen Leuten darum besonders gutgetan.

Wie haben sich die schlimmen Ereignisse auf den Glauben ausgewirkt?
Die Katastrophe hat uns die Folgen des Klimawandels deutlich vor Augen geführt und das Bewusstsein für die Schöpfung geschärft. Darum setzen wir uns bei der nächsten Synode auch damit auseinander, wie wir uns als Kirche für den Klimaschutz engagieren können. Zugleich ist das Thema Hoffnung wichtig: Was gibt mir Halt, wenn alles andere im Leben in die Brüche geht? Hier spielt unser Glaube an Gott eine Rolle, gerade im Bild des mitleidenden Christus.

Sind schon konkrete Pläne vorhanden?
Bei beschädigten Gebäuden ist immer zu klären, ob wir sie wiederaufbauen und wenn ja, wie wir das möglichst ökologisch tun könnten. Die Evangelische Kirche im Rheinland setzt sich zudem zum Ziel, bis 2035 treibhausgasneutral zu werden. Kurzfristig überprüfen wir auch, wie wir etwa Heizungsanlagen optimieren können.

Haben sich auch Gemeindemitglieder von der Kirche abgewandt?
Das habe ich nicht erlebt. Natürlich wirft eine solche Leidenserfahrung immer auch die Frage auf, wie Gott so etwas zulassen könne. Wir können als Menschen Gott nicht in die Karten schauen, aber in Christus zeigt Gott, dass er mit uns leidet. Als Kirche waren wir präsent und haben geholfen. Die Menschen haben Halt im Glauben erfahren. Das zählt. Und zu Ihrer Frage: Im letzten halben Jahr haben wir keine zusätzlichen Kirchenaustritte gehabt.

Wie werden Sie den Jahrestag der Flutkatastrophe begehen?
Hier werden wir uns mit der Politik und den anderen Religionsgemeinschaften absprechen. Der Anlass soll sicher Raum für Klage und Trauer geben. Die Gedenkfeier im vergangenen August in Aachen war sehr berührend, da auch Betroffene mitgewirkt haben. Es ist wichtig, dass wir eine heilsame Erinnerungskultur aufbauen, die für die Menschen vor Ort eine Hilfe ist, um die erfahrenen Traumata zu bewältigen.

Interview: Nadja Ehrbar, reformiert.info

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